Im Mittelpunkt von Thomas Feuersteins Arbeit "Leviathan" steht eine Staatsqualle als Metapher für soziale Metaorganismen der Natur und moderner Zivilisation. Das von der Firma Swarovski produzierte Objekt setzt sich aus über zehntausend Kristallsteinen zusammen und setzt mit der Staatsqualle das Zeichen einer furchtsamen und furchterregenden Rechtsgewalt, das sich schon im Titelbild von Thomas Hobbes' politischer Schrift "Leviathan" (1651) manifestierte.
"Der Mensch ist dem Menschen Wolf", ist ein bekanntes Zitat aus Thomas Hobbes' Werk "Leviathan", mit dem sein Menschenbild auf den Punkt gebracht wird: Der Mensch ist kein geselliges, staatsbildendes Wesen, sondern ein Raubtier voller Bosheit und destruktiver Instinkte. Kein Gesetz, kein staatlicher Zwang hält die Menschen auf, und ihr ungezügelter Selbsterhaltungstrieb führt zwangsläufig zu einem Krieg aller gegen alle. Das Titelbild auf dem Buch, dem sich Feuerstein in seiner Arbeit Leviathan 2001 bedient hat, zeigt eine über die Welt thronende Herrscherperson, die sich auf zwei bildlich dargestellte Säulen stützt: Die eine versammelt Burg, Krone, Kanone, Fahne wie Schlachtfeld und symbolisiert die kriegerische Gewalt. Die andere Säule symbolisiert die geistliche Gewalt. Sie umfasst Kirche, Bischofshut, die Bannstrahlen der Exkommunikation und den Dreizack des logischen Syllogismus bis hinunter zum disputierenden Konzil. Das Recht wird auf beiden Seiten der Macht gespiegelt.
Durch die kriegerische Macht wird er beschützt, die geistliche Macht schützt den Leviathan vor Unterminierung. Hobbes' Herrscher scheint halb Mensch, halb Fisch zu sein: der menschliche Kopf entwächst einem glitschigen Körper. Das Recht ist bei Hobbes immer nur Ausdruck der urtümlichen und unbegrenzten Macht des Leviathan, den das Buch Hiob als Seeungeheuer vorstellt, das allen Landbewohnern Furcht einflößt: Der von Gott mit Leid geprüfte Hiob wendet sich gegen den Allmächtigen. Gott teilt Hiob in einem Gleichnis mit, dass er Seine Existenz und Sein Walten nicht verstehen kann, weil es ihm über den Verstand geht. Gott ist unantastbar, lässt sich genauso wie der Leviathan nicht mit der Angel fangen, weil Hiob wie jeder Mensch davor zurückschrecken würde, ihn zu fangen: "Lege deine Hand an ihn! An den Kampf wirst du denken und es nicht wieder tun!" (AT, Buch Hiob, 40.32), denn der Leviathan "sieht allem ins Auge, was hoch ist; er ist der König über alle stolze Tiere" (AT, Buch Hiob, 41.26); Gott ist das System, das sich nicht stürzen lässt. In der Rechtssemiotik drückt der Leviathan als Zeichen in diesem Sinne den Abschied vom "Naturzustand" (Hobbes 1651, XIII) aus. Die Macht des Rechts bedrängt und zwingt jeden einzelnen Bürger; Gewalt bedeutet aber im Sinne der Hobbesschen Konzeption auch Sicherheit für jeden einzelnen.
In seiner Arbeit Leviathan setzt Feuerstein verstärkt auf die Assoziation zu dem biblischen Seeungeheuer. Die Gestalt seines Leviathans verweist auf das Meerestier Siphonophora, auch "Staatsqualle" genannt, das in der Naturentwicklung als ein merkwürdiges Gebilde gilt. Es handelt sich um ein zusammengesetztes Wesen, das aus Einzeltieren besteht. Diese Einzeltiere haben zugunsten eines größeren Systems alle Funktionen aufgegeben. Jedes Tier hat seine Aufgabe: Saturnische Tiere die aus verhärteten Platten bestehen, leben nur, um den Schutz des ganzen Organismus zu leisten; marsische Tiere, die pfeilartige Gebilde sind, sondern einen ätzenden Saft ab: Wenn irgendein Fisch in die Nähe kommt, der gefährlich werden könnte, wird er angespritzt; Jupitertiere sind für die Expansion zuständig; Merkurtiere stellen Nervenwege her, sie sorgen für die Verbindung zwischen allen Staatsteilen; Mondtiere sind Fresstiere, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes machen als zu fressen, und um den Verdauungssaft zuzubereiten, der dann an alle Teilen versandt wird; Venustiere sind Geschlechtstiere, die bloß für die Fortpflanzung sorgen. Das Königselement, das bei Hobbes der Kopf war, ist die so genannte Sonne: ein einziges Tier in der Mitte, das auf einer Art Säule sitzt. Es übernimmt die Direktion und sorgt dafür, dass das Ganze aufrecht steht, dass es richtig dirigiert wird: Er ist der ideale Diktator des Systems.
Dem Diktatorhaupt der Staatsqualle hat Feuerstein für eine ehrwürdige Repräsentation einen mit Hunderten Kristallsteinen besetzten Kranz aufgesetzt. Im Herzen des Staates oder vielmehr in seinem Quallenkopf "existiert etwas, das ihn als solchen konstituiert, und dieses etwas ist die Souveränität, von der Hobbes sagt, das genau sie die Seele des Leviathan sei". Macht will Michel Foucault "an ihren äußersten Punkten lokalisieren, an ihren Verästelungen, dort wo ihre Kanäle haarfein zu erfassen sind. Macht wird interessant, wo sie zirkuliert, wo klar wird, dass sie nur in einer Kette funktioniert": Unter ihrem Schirm wehrt Feuersteins Qualle mit ihren meterlangen, bunt schillernden Leuchtfäden symbolisch Außeneinflüsse ab, die den Staat bedrohen; die Nesselzellen einer Qualle sind winzige Körperbausteine, die innen mit Gift gefüllt sind und nach außen einen kleinen Stachel als Auslöser haben. Wenn etwas gegen diesen Stachel kommt, platzt die Zelle und schleudert eine kleine Spitze an einem Faden heraus. Die Spitze verletzt die Beute und das Gift, das in die Wunde kommt, vergiftet es. Die marsischen Tiere dienen dem führenden Staatsquallenhaupt; die Macht geht durch das Individuum, das sie konstituiert hat, hindurch.
Gleichzeitig betont Feuerstein zu seiner Arbeit "Leviathan", dass das Netz der Kristallsteine über seine Materialität auf die älteste Beschreibung von Gesellschaft als Netzwerk verweist: Das Netz des Gottes Indra. Gesellschaft wird in diesem hinduistischen Mythos als ein Netz begriffen, das aus einer Vielzahl facettengeschliffener individueller Kristalle gebildet wird. Nur im gegenseitigen Wechselspiel der Reflexionen erstrahlt die Singularität im Glanz der Sozietät. Komplettierend zu seiner Arbeit präsentiert Feuerstein eine Video-DVD, die ein Interview mit Antonio Negri zeigt, der sein gesellschaftspolitisches Theorem der Multitude anhand des kristallinen Netzes erläutert.
Schon in seiner Arbeit Leviathan 2001 dokumentiert Feuerstein, wie verfault der zur Qualle gehörige Staat ist. Milton Friedman, der Vater des Monetarismus', wird zum Feindbild erklärt: Unter der Rubrik Leviathan::Global Player macht Feuerstein aus ihm den bösen Geist, den Pac-Man nicht mehr los wird. Friedmans Kopf, vervielfacht angeboten, bedroht den Global Player, der auf sich auf dem Stock-Market "frei" bewegen will. Nur für wenige Momente lässt man den Global Player im Glauben, die Friedmans auffressen zu können. Wenn sie wieder transformiert sind, jagen sie gemächlich ihr Opfer bis ans Ende. Feuerstein lässt keinen Zweifel zu: Der Neoliberalismus führt unsere Welt ins Verderben. Feuerstein skizziert unter "Miss Information" - bei der Bastelanleitung zu Leviathan::Atopia - unsere Welt: "Wissen wird Geld und umgekehrt verzinst sich Geld nur als symbolisches Wissenskapital. Dies bereitet uns auf ein Leben in elektronischen Netzwerken vor, wo alle Kommunikationen und Transaktionen und letztendlich auch wir selbst zu Synonymen von Information und Geld werden."
Klickt man auf Leviathan::Dialoque, erscheint im Bildzentrum der Animation eine Reminiszenz an den Vorläufer aller Playstations: ein Tennisspiel, das zu Beginn der 1980er am hauseigenen Fernsehgerät mit zwei Joysticks gespielt wurde. Feuerstein simuliert ein Spiel, in dem Kraft und Gegenkraft einander aufheben: es wird ewig Null zu Null stehen. Ein Schriftzug oberhalb der ausgeglichenen Partie verweist auf die Sparringpartner, die hier aufeinander treffen: "Ted Kaczynski in conversation with Joseph Weizenbaum's doc". Klickt man auf das Tennisspiel, öffnet sich ein Fenster und es beginnt ein simulierter Dialog zwischen "ted" und "doc". Ted Kaczynski hat sich zu Beginn der 1970er nach einer akademischen Karriere an US-amerikanischen Universitäten, als Einsiedler in die Wälder Montanas zurückgezogen, um an einem Sommermorgen 1983 vor der eigenen Haustüre Touristen und eine Landstraße anzutreffen. Ab diesem Zeitpunkt schwor Kaczynski dem System Rache. Achtzehn Jahre später hat Kaczynski bei insgesamt sechzehn Bombenanschlägen in den USA drei Menschen getötet und neunundzwanzig verletzt. Agenten des FBI gaben Kaczynski während den Ermittlungen den Namen "Unabomber", weil Universitäten und Luftlinien die ersten Ziele des Systemgegners waren. Feuerstein bietet rechts neben der Tennisanimation ein frühes Phantombild und einen Link zum Manifest Kaczynskis an, in dem der Autor seine profunde Kritik an abendländischer Zivilisation und Pseudolinken erläutert.
Diesem Verteidiger des einfachen, primitiven Lebens setzt Feuerstein in seiner Konversation den Gesprächspartner "doc" gegenüber, der an Weizenbaums Computerprogramm ELIZA (1964) erinnert, bei dem der menschliche Gesprächspartner seinen Beitrag zur Unterhaltung auf einer mit dem Computer verbundenen Schreibmaschine tippt, und der Computer, unter der Kontrolle Weizenbaums Programm, die ihm auf diese Weise übermittelte Botschaft analysiert und auf Englisch eine Antwort zusammenstellt. Feuersteins Dialog zwischen den beiden zeichnet sich dadurch aus, dass die Maschine "doc" mitunter eine Frage Kaczynskis übernimmt und sie ihm identisch als Gegenfrage retourniert: ein Frage- und Antwortspiel als ausgeglichene Partie für die Ewigkeit. Die Fragen von "doc" wiederholen sich und Kaczynski beantwortet beharrlich, wiederholt seine Anklagen, bleibt aber letztendlich der Maschine ausgeliefert. Wie Hiob versuchte Kaczynski vergeblich ein System zu kritisieren, das sich nicht beirren ließ: Hiob wollte Gott mahnen, mit dem Schicksal der Gottesfürchtigen gerecht zu verfahren; Kaczynski wollte den Staat mit Terroranschlägen irritieren, ihn vom Kapitalismus abbringen. Im Prinzip lebt der Staat aber davon, jede Gelegenheit zu nutzen, seine Macht zu beweisen. Unter dem Vorwand den einzelnen zu beschützen, wird -frei nach Hobbes- auf Gewalt mit härterer Gegengewalt geantwortet. Aus der Asche der kollabierten Twin Towers entsteigt der Leviathan 2001 entschlossener als je zuvor.
Erstveröffentlichung: http://www.thecrystalweb.com