Antonio Negri

fiat::individui radicali – compagni sociali

Auszüge aus dem Videointerview*

Fiat lux

Im Grunde genommen ist fiat nichts anderes als ein Grundprinzip der Existenz an sich. Gott hat sein Werk am siebenten Tag nicht einfach beendet. Wir selbst haben seit diesem siebenten Tag ständig weitergearbeitet, oder wir waren Zuschauer, und wir bauen immer noch weiter an dieser Welt. Wenn die Dinge immer noch so wären, wie Gott sie an diesem siebenten und letzten Tag hinterlassen hat, dann wäre das ein ziemliches Chaos! Es gab viel mehr Böses als Gutes, die Welt wurde im Zeichen des Bösen erschaffen, viel eher als im Zeichen des Guten: Das wenige Gute, das wir in der Welt vorfinden, haben wir selbst geschaffen.

FIAT: Fabbrica Italiana Automobili Torino

Ich weiß nicht, ob fiat unbedingt die FIAT Motor Corporation ist – die Fabbrica Italiana Automobili Torino. Dieses FIAT hat mit fiat lux nichts zu tun. Es war schlicht und einfach der Protagonist eines bedeutenden Augenblicks in der industriellen Entwicklung Italiens. In Wirklichkeit ist dieser Augenblick noch nicht Vergangenheit, er hat viele Lücken hinterlassen.

Ich persönlich habe kein darüber hinaus gehendes Interesse an dieser Form von Industrie. Vielmehr: Wichtig ist nicht, dass ich selbst kein Interesse daran habe, sondern dass sie für all jene keine Bedeutung mehr hat, deren Arbeit auf einem Projekt beruht, das auf eine Transformation industrieller Strukturen abzielt, und zwar unter Bedingungen, die über eine Ideologie `a la Ford oder eben die grundlegenden Prämissen des modernen Zeitalters hinausgehen.

Ideologie, Technologie und Gesellschaft

Weder die Ideologie noch die Technologie können als objektiv betrachtet werden. Ideologien sind im Grunde Versuche, die Wirklichkeit im Voraus festzulegen oder in einen gewünschten Zustand zu bringen. Die Technologie ist etwas, das die Menschen geschaffen haben, und sie impliziert gleichzeitig, dass sie beherrscht werden kann, ebenso wie sie den entsprechenden Raum impliziert, um Selbstausdruck zu ermöglichen. Was wir jetzt tun müssen, hat mit dem Zurückdrängen von Herrschaftsstrukturen und der verstärkten Förderung des Ausdrucks zu tun.

Ich selbst bin in einer Zeit aufgewachsen, als Arbeit noch mit der Herstellung von Waren mit Hilfe größtenteils physischer Werkzeuge zu tun hatte. Es hieß zum Beispiel immer wieder, dass Arbeiter schwielige Hände haben. Daher war es für mich ein ziemlicher Schock, als ich in den 1970er-Jahren miterlebte, wie diese Dinge anfingen, sich drastisch zu verändern.

Aber die bedeutendste Veränderung war, dass die neuen Arbeitskräfte, die jüngeren Arbeiter, die FIAT nach und nach einstellte, keine Einwanderer aus dem Süden mehr waren, also Arbeiter, die mehr oder weniger Bauern gewesen waren, bevor sie ausgeschickt wurden, um sich Jobs in den Fabriken zu suchen. Die neuen Arbeitskräfte waren die Kinder dieser ersten Generation von FIAT-Arbeitern; die hatten alle eine Schule besucht, hatten einen Mittelschulabschluss, und viele waren sogar auf einer Hochschule gewesen. Es hatte eine echte anthropologische Verschiebung stattgefunden, und die Veränderung war ziemlich tiefgreifend. Das heißt, ja, diese neue Arbeitergeneration hatte gar keine andere Wahl, als um Lohnerhöhungen zu kämpfen – da Geld etwas ist, das man unbedingt braucht, ohne kann man nicht leben, es ist ein absolut grundlegender Überlebensfaktor –, doch die Arbeiter kämpften zusehends um mehr als nur das. Sie begriffen allmählich, dass man Maschinen auf unterschiedliche Weise bauen kann und dass Geld mehr ist als bloß eine Frage des nackten Überlebens. Sie brauchten Geld auch deswegen, weil sie weiterlernen wollten, für einen laufenden Fortbildungsprozess. Die Träume und Wünsche dieser Menschen hatten sich grundlegend verändert.

In den 70er-Jahren forderten die Arbeiter Lohnerhöhungen, bessere Gehälter, eine Neuverteilung der Gewinne, eine Umverteilung des Überschusses, der aus ihrer Arbeit, aus der Zeit, die sie bei der Arbeit verbrachten, erzielt wurde. Heute weiß jeder, dass Gehälter etwas mit deiner Ausbildung und deinen Erwartungen zu tun haben, mit deinem Lebensstil, mit der Art und Weise, wie du älter wirst und deinen Ruhestand genießt; es geht darum, wie dein ganzes Leben verläuft. Alles hängt davon ab, was man dir zahlt. Und die verschiedenen Formen des Arbeitskampfes berücksichtigen das. Der Kampf wird zunehmend auf der gesellschaftlichen Ebene ausgefochten und befasst sich zum Beispiel nicht nur mit der Frage der Entlohnung, des Gehalts, sondern auch mit Fragen wie Krieg und Frieden, welche Vorstellungen wir von der Gesellschaft haben, mit der Zukunft der Ökologie, mit allem. Alle diese Dinge werden Teil des Kampfes, und der Ort, wo dieser Kampf ausgetragen wird, ist nicht mehr die Fabrik, oder nicht nur die Fabrik. Man nimmt heute nicht mehr als Mitglied einer vereinzelten, eher kleinen Gruppe von Menschen an diesem Kampf teil. Man ist gleichzeitig – und zwangsläufig – Teil der Kämpfe einer weltweiten Vielheit.

Multitude

Wir haben das Ausmaß dieses Kampfes, den ich gerade beschrieben habe, vorausgesehen: von den Straßenkämpfen 1992 in Los Angeles bis zum Tiananmen-Aufstand, von Chiapas bis Frankreich 1995 und schließlich generell bis zu all den riesigen Konflikten, die im Vorfeld des Zusammenbruchs der Sowjetunion und ihres gesamten Herrschaftssystems zum Ausbruch kamen. Wir haben uns jeden dieser Kämpfe sehr genau angesehen, einen nach dem anderen, und konnten einige gemeinsame Merkmale feststellen. Aber wir erkannten immer noch nicht, dass sie in Wirklichkeit alle dasselbe waren, obwohl sie alle von unten ausgingen, als Phänomene an der Basis, und obwohl sie alle an bestimmten Punkten in einer spezifisch kapitalistischen Entwicklung auftraten. Die Aufstände eingeborener Völker, der Kampf gegen Rassismus und viele andere Kämpfe, sie alle schienen auf dieselben Ziele ausgerichtet und waren sich dessen dennoch nicht bewusst. Dieses Bewusstsein war nach wie vor fragmentarisch. Doch dann, im Vorfeld von Seattle, fingen diese verschiedenen Bewegungen allmählich an, sich so zu verhalten, als stünden sie einem einzigen Gegner, einer einzigen imperialistischen Macht gegenüber. Wenn man nun dieses Bewusstsein mit einer Reihe anderer überaus wichtiger Elemente verbindet, etwa der neuen Qualität der Arbeit und den biopolitischen Dimensionen menschlicher Aktivitäten, kommen wir an einen Punkt, wo wir anfangen, eine Vorstellung von der ªMultitude´ oder Vielheit zu bekommen, und ich denke, diese Vielheit wird sich allmählich de facto als echte und eigentliche Wirklichkeit ausdrücken. Daher war ich tief beeindruckt, als zum Beispiel am 15. Februar diese großen Demonstrationen auf der ganzen Welt stattfanden. Das war das erste Mal seit der Erfindung des 1. Mai, der auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, es war das erste Mal in mehr als einem Jahrhundert, dass so etwas stattgefunden hat. Ich meine, eine kleine Gruppe von Freunden und Arbeitskollegen ist zusammengekommen, zunächst in Florenz und dann in Pôrto Alegre, und hatte die Idee zu einer Art Friedensdemonstration, und der Protest hat sich auf die ganze Welt ausgebreitet, 110 Millionen Menschen marschierten und demonstrierten auf den Straßen. Die New York Times schrieb, dass die öffentliche Meinung, als ªdie zweite große Supermacht´, erwachsen geworden sei und eine Stimme gefunden habe, mit der sie zum ªEmpire´ sprechen könne. Es war ein Vorgeschmack darauf, was von der weltweiten Vielheit zu erwarten sein wird.

Je weiter der Globalisierungsprozess fortschreitet, desto mehr Apartheid gibt es. Die Welt funktioniert über Hierarchien. Solange es ein kapitalistisches System, ein System der Ausbeutung, gibt, ist klar, dass die Tatsache, dass Menschen zunehmend gleich sind bzw. einander zunehmend gleichen – wir alle sind aufgefordert zu produzieren, eigentlich in demselben Maße, in dem wir existieren –, und auch die Tatsache, dass die gesellschaftliche Ordnung zu einer biopolitischen Ordnung geworden ist, dass diese Dinge Hand in Hand gehen mit einem Herrschaftssystem, das hierarchisch funktionieren muss, mit internen Hierarchien, globalen Hierarchien, räumlichen Hierarchien, Hierarchien des Wissens, der Bilder, der Sprache, der Ausbildung, sodass man schließlich so etwas wie Apartheid hat. Wir erreichen tatsächlich Grade der Ausschließlichkeit, die so weit gehen. Und das ist ein Paradoxon. Denn alle diese Dinge finden statt zu einer Zeit, da die Welt alles umfasst, in der es nirgendwo einen Ort gibt, der nicht Teil dieser Welt ist. Das heißt, das Aufgenommensein in die Welt ist eine Lebensnotwendigkeit, und jeder Ausschluss, jede Hierarchie erscheint umso grausamer und barbarischer.

Die Politik und das Leben, das wir führen, sind mittlerweile verflochten. Sie bilden eine große Struktur. So leben wir, das heißt, wir können keinen Unterschied machen zwischen Wirtschaft und Politik; Wirtschaft und Politik sind ein und dasselbe, das ist die Realität, in der wir uns bewegen müssen.

Radikale Individuen

Ich habe immer versucht, mich nicht als ªRadikalen´ zu sehen, selbst wenn die Dinge, die ich sagen muss, radikale Positionen ausdrücken; das sind ja auch tatsächlich jene Positionen, die ich immer unterstützen wollte. Ich habe immer versucht, eine Stimme zu sein und so als Element zu funktionieren, das im Einklang mit anderen wirkt. Daher macht es mich immer ein bisschen nervös, wenn man mich als ªRadikalen´ bezeichnet. Denn ich bin keineswegs Anarchist. Wenn man sich als ªradikal´ bezeichnet, knüpft man an anarchistische Traditionen an, die zuweilen – in anarchistisch-individualistischen Schulen – behaupten, dass die Rebellion des Einzelnen ein Wert an sich ist. Ich glaube das nicht. Rebellion kann, für mich, nur etwas Kollektives sein, und sie muss konstruktiv bzw. auf die Errichtung einer anderen Welt, einer anderen Wirklichkeit ausgerichtet sein. Wenn es etwas gibt, worauf ich stolz bin, dann ist es gerade die Tatsache, dass ich immer eine radikale Stimme war, jedoch nicht in einem individualistischen Sinn. Ich wollte immer meine Rolle innerhalb einer Gruppe, innerhalb der Massen und vor allem als Teil einer Vielheit spielen, also dort, wo Individualität oder Einzigartigkeit weiter besteht, aber nur weil sie von allen geteilt wird.

Soziale Genossen

In dieser Metapher von den Kristallgruppen scheint mir eine große Schönheit zu liegen. Kristalle verweisen nicht auf sich selbst, da jeder einen anderen widerspiegelt. Das heißt, hier liegt eine gewisse Einzigartigkeit, die mit Individualität nichts zu tun hat. Individualität ist eine Eigenschaft von etwas, das für sich lebt, wenn ich jedoch einen Kristall neben einen anderen lege, zeigt er sich lediglich insoweit als einzigartig, als er seinen Nachbarn reflektiert, und so weiter und so fort, bis in die Unendlichkeit. Wenn ich zum Beispiel von einer Vielheit spreche, meine ich eigentlich eine Gruppe von Singularitäten. Diese existieren nicht so, wie man sich die Existenz von Individuen herkömmlich vorstellt, als etwas von ganz eigener Substanz. Hier geht es um Singularitäten, die nur als Teile von Beziehungen existieren, oder nur insoweit, als sie einander reflektieren oder eine Beziehung eingehen. Der absolut fundamentale Aspekt ist die Tatsache, dass ein Kristall als Kristall auch die Fähigkeit besitzt, in Beziehungen zu existieren und nicht bloß für sich zu bestehen.

*) Video-DVD fiat::individui radicali – compagni sociali
Interview Antonio Negri, DV PAL, 16 min
Aufnahme und Schnitt: Wolfgang Rebernik
Redaktion: Doris Ladstaetter
Produktion: Thomas Feuerstein
Videointerview Antonio Negri, ital. Originalfassung (mpeg1 stream, 340Kbit/s)

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