Am Meeresstrand gibt es schäumende Wellen, aber weiter draußen herrschen langsame, stetige Strömungen, durch die sich sämtliche Wassermassen verschieben, obwohl es das Auge gar nicht erkennen kann. Mich interessieren genau diese Strömungen. Eine dieser Strömungen in der Kunstwelt bilden die Außenseiter. Sie folgen nie den Regeln künstlerischer Wortführer. Es handelt sich vielmehr um einen sensibilisierten Künstlertypus, der in seinem Fühlen, Denken, Schaffen und Leben an der Realität einer herrschenden Mehrheit zerbricht. Das Thema „Outsider“ beschäftigte mich 1989 im Rahmen einer Recherche für die Zeitschrift „Kunstforum“ und hat mich bis heute nicht mehr losgelassen. Der Blick auf den Außenseiter liefert zahlreiche Antworten zur Frage: Was ist ein Künstler? Der Künstler-Außenseiter entzieht sich den herrschenden Gepflogenheiten und der dominanten Weltanschauung dadurch, dass er zu seiner Andersartigkeit steht. Er stellt sich in einen Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen und Ordentlichen. Er wählt die bewusste Isolation, das Ausscheren oder das unbewusste Untertauchen. In der Kunstlandschaft bleibt er ein Promeneur solitaire, was auf die Person von Robert Walser anspielt.
Der Künstler als Außenseiter ist ein „Dazwischener“, einer, der einige Wege abkürzt, manch ein Ziel erreicht, aber nie seinen Ort findet. In Zwischenräumen ängstigen Abgründe und Grenzen zwischen den Systemen nicht mehr. Grenzräume werden zu Spielräumen. Die Outsider erfahren sich und ihre Mitwelt ästhetisch. Im 21. Jahrhundert befinden sich praktisch alle Künstler im Outside, am Rande der Gesellschaft. Der Künstler spielt eine Nebenrolle. Der Künstler ist der Außenseiter par excellence.
Ob der Künstler auch ein „Outcast of the Universe“ ist, ist schwer zu beantworten. Der Ausdruck klingt in meinen Ohren nach dem Namen einer Heavy-Metal-Band oder dem Namen eines Action-Adventure-Computerspiels. Wenn du als Künstler fragst, dann stelle ich mir vor, dass sich ein surrealer Bilderbogen vor unseren Augen aufblättert, grell und beklemmend, mit ausufernden Beschreibungen, albtraumartigen Sequenzen und einsamen Figuren. Dabei geraten die Raum-Zeit-Strukturen ins Schlingern.
Die Kunstkritik als Outsider-Forschung ist eine Strömung unter vielen anderen. Durch die Outsider-Forschung verschiebt sich der Blick auf die Figur des Künstlers. Dabei ist der Paradigmenwechsel zwischen traditionellem Künstler und Außenseiter beachtlich. Während der eine seinen Künstlermythos lebt, zielt der andere auf eine selbstbestimmte Existenz. Während der eine unbedingt dabei sein will, interessiert den anderen stattdessen das Dazwischensein. Zur Veranschaulichung ist es lohnenswert, eine Liste von Gegensatzpaaren und Metaphern aufzustellen, die natürlich offen, modifizierbar und unvollständig bleibt – links die Eigenschaften für traditionelle Künstlerfiguren, rechts die Außenseiter-Eigenschaften, die allmählich an ihre Stelle treten: mitmachen/ausscheiden, lebt Künstlermythos/selbstbestimmte Existenz, hoch empfindliche Neurose/Utopie der Empfindlichkeit, humoriger Entertainer/bohrende Innerlichkeit, dabei sein/dazwischen sein, sucht Dazugehörigkeit/steht zur Andersartigkeit, die Welt abbilden/zugeschüttete Welt freilegen, Tradition/Ursprünglichkeit, kanonisierte Schönheit/hässliche Kunst, Nachahmung/neue Erfindungen, ins Rampenlicht gerückt/ver-rückte Position, Stil/sozialer Kontext, Anpassung/Widerstand, Kulturvermittler/Kulturverweigerer.
Den Künstler als Outsider-Forscher zu bezeichnen, bedeutet zu beobachten, wie Künstler sich mit Outsider-Figuren identifizieren. Indem sich etwa Georg Baselitz als Wandersmann mit Gepäck und Begleiter darstellt, erlebt er sich nicht nur als Nachfolger des deutschen Romantikers, sondern nimmt (was als werkerklärendes Element bisher noch nicht bemerkt worden ist) in einer tieferen Schicht gleichnishaft die archetypische Gestalt des Narren an. Die archetypische Kraft des Narren gibt Baselitz als einem intuitiven Geist viele Möglichkeiten, die un-erhörte Wahrheit vorzuführen. Der Narr hält der Gesellschaft den Spiegel der Selbsterkenntnis vor und warnt sie vor gefährlichen Abwegen, indem er ihr ihre fragwürdigen Gewohnheiten vor Augen führt. Im aktuellen Kunstgeschehen wird die Rolle des Narren von einzelnen Künstlern direkt oder durch ihre Werke verkörpert.
Mit einem Fuß nahe dem Abgrund, steht der Narr als Symbol für Unbeschwertheit und Unbekümmertheit, für Leichtfüßigkeit und Leichtsinnigkeit. Er spricht in Rätseln und wird dabei ganz deutlich. Der Künstler als Outsider und Narr bleibt immer eine Randfigur, ein Mensch ohne politisches Gewicht. Dafür steht ihm das Recht zu, un-erhörte Wahrheiten auszusprechen, die andere verschweigen müssen. Seine Andersartigkeit stempelt ihn zum Außenseiter.
Ich halte es mit der Kunsttheorie von Joseph Beuys und mit seinem Satz „Jeder ist ein Künstler“. Das meint die prinzipielle Möglichkeit, an jenes Schöpferische und Subversive zu gelangen, das in jedem von uns steckt. Beuys’ Botschaft würde heute denn auch lauten: Um die Globalisierung zu gestalten, muss das Individuum zuvor sich selbst gestalten. Die Kunst der Selbstgestaltung findet sich nicht im Gestus von Provokation und Subversion, sondern setzt auf die (kleine) Abweichung, auf die Abversion. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Die Kunst lebt von Protagonisten, die sich widerständig zeigen und in der Präsentation ihrer „Werke“ schwer durchschaubar oder undurchschaubar bleiben. Der Künstler setzt sich ab durch den Wunsch zur Differenz: „Um ein Selbst zu sein, muss ich anders sein als die anderen.“ – „Ich bin, indem ich mich unterscheide.“ – „Was ich bin, erfahre ich nur im Unterschied zu den anderen.“
Für mich als Kurator veränderte die Beschäftigung mit dem Außenseitertum das Medium Kunstausstellung. Gelungene Ausstellungskunst liegt quer zur Aktualität. Sie steht für Ausnahme statt Regel. Sie lehnt herrschende Zustände ab. Sie unternimmt Erkundungen von den Rändern her. Sie stellt sich in einen Gegensatz zum Gewöhnlichen und Ordentlichen. Sie entzieht sich herrschenden Weltanschauungen. Sie deckt die Ränder der Kunstgeschichte auf. Sie hinterfragt die Definitionsmacht. Sie handelt von Protest, Ungehorsam und Widerstand. So auch von Bewusstwerdung. In ihrer Haltung erinnert sie an die Angriffe der Beatniks, Hippies, Kommunarden und Umweltschützer auf die überlieferte Sexualmoral und die Institution der Familie, die Arbeitsethik und die Ideologie des Fortschritts, das Gesetz des Profits und die Umweltverschmutzung. Das erinnert an den Mai 1968, an die soziale Ungerechtigkeit, an die Ghettos, Favelas und Bidonvilles. Das erinnert an Black Power, feministische Bewegungen und Gefangenenkomitees. Das erinnert an die Beschäftigung mit Exklusion/Inklusion, Eingliederung/Ausschluss, Einsperrung/Ausgrenzung. Das erinnert an das Randmenschentum als Bildmotiv und an die Gestaltung von Wahnsinn in der Malerei. Das erinnert an den Romantiker, der sich mit den Rand- und Unterschichten der Gesellschaft identifizierte und sich selbst zu jenen Außenseitern zählte. Gelungene Ausstellungskunst sucht im Zeichen des Außenseitertums nach dem Ungewohnten und Unkonventionellen, nach der Unbeschwertheit und Unbekümmertheit, nach der Leichtfüßigkeit und Leichtsinnigkeit. Gelungene Ausstellungskunst nimmt eine kritische Distanz zum Kunstgeschehen ein. Sie unterstützt die Erschaffung einer Gegen(warts)kultur.
Ernsthaft ist widerständiges Denken, Handeln, Fühlen und Kommunizieren nur, wenn es das Selbst ganz erfasst, wenn das Reflektieren der eigenen Position ein permanentes Experimentieren zur Folge hat. Eine Ästhetik des Ungehorsams steht für ein Höchstmaß an selbstbestimmter Lebensführung. Eine Ästhetik der Existenz als Kunstwerk ist nicht bloß Form, nicht nur reine Technik, sondern zugleich auch ein Akt der temporären Abwendung von Leben und Kunst um einer neuen, produktiven Zuwendung willen. Im Mensch- und Lebensbild widerständiger Produzent/innen verbinden sich Denken, Wort und Tat mit dem Ziel, sich von der Kunst zu befreien, um ihr eigenes Leben leben zu können.
Der Irak-Krieg zeigt, wie der französische Autor Paul Virilio erklärt, dass „die Hypermacht der USA ihre Hyperschwäche ist in dieser neuen Form des Krieges. Man kann einen Krieg, in dem man seinen Feind nicht mehr kennt, nicht gewinnen. Das ist die radikale Neuigkeit. Amerikas politische Schwäche gründet in seiner militärischen Hypermacht.“1
In der künftigen „Netzwerkgesellschaft“ gewinnt die „Macht des Selbst“ gegenüber den „Selbsten an der Macht“ an Bedeutung. Institutionen – Staat, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften – verlieren an Relevanz. Widerstands-Identitäten entstehen. Neben den Kämpfern um territoriale Identität, Umweltschutz, Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, neben wiedererwachten Familiensehnsüchten, neben der Konjunktur nationalistischer und fundamentalistischer Bewegungen, neben den sozialen Bewegungen der Altermondialisten und dem Projekt „1000 Frauen für den Friedensnobelpreis“, verlangt das Zeitalter der Globalisierung nach Netzwerken, die Widerstandsformen einfädeln, gegeneinander abgeschlossene Identitäten verbinden und dem Wahnsinn an Verwüstung mit dem Stachel der Kunst-Revolte antworten. Das Netz, in das jede/r verwoben ist, kann als Netz aus lauter Lichtfäden aufleuchten und sich sichtbar machen – wie ein Spinnennetz voller Tau im Morgenlicht.
Flexibilität ist das Zauberwort des globalen Kapitalismus. Selbst der ganz normale Arbeitnehmer muss ständig bereit sein für Veränderungen, muss sich immer wieder aufs Neue riskieren. Der US-Soziologe Richard Sennett hat mit dem Buch „Der flexible Mensch“ einen Essay über die „Kultur des neuen Kapitalismus“ verfasst. Der amerikanische Originaltitel deckt auf, welchen Preis der flexible Mensch für seine Bereitschaft zur permanenten Beweglichkeit zu zahlen hat: „The Corrosion of Character“ (Der Zerfall des Charakters). Der flexible Mensch ist, so lautet Sennetts These, nicht mehr in der Lage, einen individuellen Charakter auszubilden. Dafür bedürfte es langfristiger Verbindlichkeiten und Loyalitäten, erzählbarer Lebensgeschichten. Das allseits geforderte lebenslange Lernen lasse keine dauerhaften sozialen Beziehungen zu, die Fragmente gesteigerter Zufälligkeit können nicht mehr zu einer Erzählung gebündelt werden, geschweige denn in einer Lebensgeschichte, die Voraussetzung für Identitätsbildung ist.
Sennetts Bücher belegen, dass wir durch die privaten wie globalen, durch die wirtschaftlichen wie die strategischen Verflechtungen in einer gemeinsamen Welt leben müssen. Die hierfür notwendige Flexibilität ist weder gut noch schlecht, sondern fungiert als Werkzeug, mit dem sich im „Dialog der Kulturen“ etwas Neues, Besseres, etwas Anderes herstellen lässt.
Der Begriff der Flexibilität im Kontext der Kunst steht für eine poetische Kraft, die Gegensätzliches weder versöhnt noch gegeneinander setzt. Eine Ästhetik der Flexibilität funktioniert nicht nach dem Prinzip eines Entweder-oder, sondern eines Sowohl-als-auch: dem Unterschiedlichen kommt etwas Gleichwertiges zu, die Dinge verschmelzen, durchdringen und überbieten sich nicht, sondern sie kontrastieren sich produktiv. Gerade gelungene Kunstwerke exemplifizieren Kontrastwirkungen im Sinne einer Identitätssuche aus der Reflexion über das Andere. Es ist ein sorgfältiger und intensiver Blick auf andere Menschen und ihre Lebensformen. Niemals gleichgültig und an keinen ästhetischen Kanon gebunden – gerade deswegen flexibel zu nennen.
Das Erlebnisparadigma des Künstlers steht heute bei vielen Jugendlichen tatsächlich zuoberst auf der Wunschliste der Selbstverwirklichung. Mit was für Folgen? Führt die Vermassung im Künstlerberuf automatisch zur Konformität der Kunst? Oder erlaubt, ganz im Gegenteil, das Massewerden nonkonformer Ideen einen raschen Wandel verstockter Denkkrusten? Dissidenz im Multipack?! Oder bringt dieser übersteigerte Hang künstlerischer Kreativät neues Leben in die Buden von Kunst, Musik, Theater etc.? Kann das Experimentelle und Unangepasste an Terrain gewinnen, ohne dabei im Souterrain zu verschwinden?
Sicher ist, dass wenn vermehrt Altbackenes und Innovatives, Normiertes und Schräges, Geniales und Zweifelhaftes aufeinanderstoßen, sei‘s auf etablierten oder auf alternativen Bühnen, dass dies in der Tat die Ballung einer neuen Qualität ist: In der Kunst wie im Leben werden Vielfalt und Mannigfaltigkeit, Differenzen und Widersprüche gelten gelassen. „Das Gleiche lässt uns in Ruhe“, hat Goethe einmal gesagt, „aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“ Und die Produktivität, ließe sich hinzufügen, treibt zum Widerspruch.
Die heutige Gegenwartskunst ist weder Vor- noch Nachhut irgendeiner Entwicklung. Ihr kann als Stärke angerechnet werden, dass ihre Akteure einander in der Sache widersprechen können, indem sie an der Sache arbeiten. In dieser Ästhetik des Widerspruchs findet jeder seine Identität, indem er seine Differenz sucht. Sie spiegelt vielleicht den Traum, die Gegensätze, Risse und Sprünge dieser Welt in eine Art Off-Balance der Welt wiederzubringen, so wie es einen Off-Stream der Kultur oder einen Off-Broadway gibt.
Wenn die gemeinsame Leitvorstellung, welche Yuppies und Autonome, Öko-Fundamentalisten und Buddhismus-Fans, Punks und Grungies, letztlich einen Großteil der Szenen und Subkulturen eint, sich als vielfach variiertes Paradigma der Künstlerexistenz entpuppt, dann führt dies unweigerlich zu einer Massenbohemisierung. Bestes Beispiel ist ein Künstlerbild à la Van Gogh, das durch seine Kreativität das Schicksal besiegt: Der Künstler ist Modell. Er ist der exemplarische Mensch, bereit, bürgerlichen Wohlstand und Sicherheit der Inszenierung und Evokation seiner Subjektivität, der Provokation seiner eigenen Kreativität zu opfern.
Diese auf den romantischen Künstler sich beziehende Sicht heißt sogar die progressive Kunstwelt willkommen. Das antiquierte Bild des Avantgarde-Künstlers als Leitstern und Moses, der die trivialen anderen aus der Welt der gewöhnlichen Wahrnehmung herausführt, diese Verehrung des Künstlers als heroische Heilsfigur wurde jedoch mit Beuys endgültig zu Grabe getragen. Die Spiegelwelten der Massenmedien haben das Bild des Künstlers standardisiert. Die Konventionen der Sprache und der Stile zersetzen es. Begünstigt durch die Arbeitslosigkeit heißt es heute folgerichtig nicht mehr „Jeder ist ein Künstler“, sondern „Jeder ist ein Bohemien“.
Ich möchte gerne vorschlagen, einerseits anstelle von „Gesellschaft neu“ von Kultur zu sprechen und andererseits statt vom „Subjekt neu“ vom Selbst zu reden. Das führt uns zu einer Kultur des Selbst bzw. zu einer Selbstkultur. Von hier aus gehen wir zurück zur Frage, ob die Kunst sich um das Selbst kümmern soll.
Das ästhetische Selbst ereignet sich in dem komplexen Ineinanderwirken von Leben, Privatem, Innerem, Eigenem, Subjektivem, dem Ich und dem Räderwerk des Alltags einerseits und der Kunst, der Öffentlichkeit, dem Äußeren, Fremden, Objektiven, dem Wir und der Gesellschaft des Spektakels andererseits. In der Kunst löst sich das Denken in Oppositionen auf. Die Kultur des Selbst extrahiert aus der Verknüpfung von privaten Empfindungen und öffentlichen Diskursen etwas Neues, Drittes. Das kann zu Wahrnehmungen des Selbst führen, die unter herkömmlichen Bedingungen ausbleiben. Das Selbst und die Kultur folgen Regeln und Gesetzen. Sie haben ihre eigenen Erscheinungsformen und Forschungsmethoden, mit unterschiedlicher Wirkungsmacht und politischer Relevanz. Dennoch ist die Kultur ein wesentliches Ferment für die Selbstwerdung. Werden das Selbst und die Kultur gleichzeitig und gleichwertig wahrnehmbar, begründen sie als ein neues Ganzes die Selbstkultur.
Selbstkultur erforscht, ob beim Aktivisten, Denker, Künstler, Schriftsteller etc., das Leben in ihm und um ihn. Sie konstituiert einen permanenten Prozess zwischen einander widersprechenden, sich gegenseitig ausschließenden und gleichzeitig einander vervollständigenden Phänomenen.
Die Selbstkultur lebt von der Fähigkeit, radikal zu individualisieren. Wer in diesem Kontext auf Dinge, Menschen oder Kunstwerke trifft, ordnet nicht zu oder ein, schlägt über keinen Leisten der Konvention oder Norm, sondern lässt die Einzigartigkeit und den Selbstsinn zu. In der Selbstkultur ist der Hammer „einfach Hammer“, der Freund „einfach Walter“, das Bild im Museum „einfach das Bild“ – unabhängig davon, was „im“ Bild ist. Die Selbstkultur auf eine Gesellschaftsform transformiert, lässt zu, dass jeder als derjenige identifiziert wird, der er ist. Das entbindet niemanden der eigenen Selbstfindung zwischen Leidenschaft und Anpassung, Autonomie und Abhängigkeit, der Freiheit der Strasse und der Karriere, Existenz und Establishment, Autodidakt und Akademie, Engagement und Entfremdung.
Die Selbstkultur bietet dem ästhetischen Selbst die Möglichkeit der Wahl. Das erinnert an die romantische Auffassung des „reinen Ichs“, das aus der Wirklichkeit ein Spielfeld grenzenloser Möglichkeiten macht. Das erinnert an den ästhetischen Menschen, der das Leben als permanentes Experiment führt. Das erinnert aber auch an einen politischen Aktivismus, der sich nicht durch ein Programm kennzeichnet, sondern getrieben ist von der Performativität nach neuer Lebensintensität. Das erinnert ebenso an die dadaistischen und situationistischen Kunstrevolten. Der eigentliche Zweck der politischen Rebellion liegt darin, Subjektivität zu zünden und ein Maskenfest der Verweigerung zu veranstalten. Die Kunst und so auch die Künste des Selbst waren, sind und bleiben für immer klar und deutlich eine Frage der Individualität. Kunst verfolgt ein Konzept dieser Individualität und der eigenen Selbstgewissheit. Kunst ereignet sich in der Abwehr kollektiver Identitätsmodelle (Extremismus, Nationalismus, Terrorismus, Fundamentalismus, Dogmatismus, Totalitarismus). Die Selbstkultur liefert den „Erzählfaden“ zum intellektuellen Deserteur und ästhetischen Dissidenten. Wir erleben einen Akteur, der zwischen der Hingabe an eine Idee und dem Verlangen nach Authentizität hin- und hergerissen ist. Seine Revolte ist ästhetischer Art. Seine Haltung formuliert er mit: „Ich bin nicht dagegen oder anders – ich bin ich selbst.“ Im Reich der Konformitäten kann jede Individualität und jedes ästhetische Dasein ein Vergehen sein. Dissidenz ist somit ein Synonym für Kunst.
Der Blick auf die heutige Gegenwartskunst zeigt, dass die Autonomie der Kunst im Sinne ihrer Abgesondertheit vom „Leben“ aufgegeben wird zugunsten einer Autonomie im Sinne einer Eigengesetzlichkeit mit Fühlern nach außen. Einer Autonomie also, die im Leben immer weniger als idealistische Selbstverwirklichung, sondern mehr denn je als abversive Selbstbestimmung Fuß fasst. Der Charakter heutiger Avantgarde ist denn auch tendenziell prozesshaft und situativ, ambulant und temporär, kontextbezogen und konnotativ, retrospektiv und zugleich prospektiv, also retrovisionär, und nicht zuletzt grenzüberschreitend. Mit Grenzüberschreitung ist gemeint, dass die Funktion der Kunst sich in Richtung Gestaltung des Lebens verlagert.
Das heutige Verständnis der Autonomie von Kunst meint nicht ihre „Verselbständigung der Gesellschaft gegenüber“ (Theodor Adorno), sondern ihre „Verselbständigung in der Gesellschaft“ (Niklas Luhmann), womit Kunst weder als Gegenposition definiert, noch ins Abseits platziert wird. Im Gegenteil, meint Luhmann: „Die Kunst teilt das Schicksal der modernen Gesellschaft gerade dadurch, dass sie als autonom gewordenes System zurechtzukommen sucht.“2 Gefeiert werden kann der Abschied vom Konzept Autonomie und der strahlende Beginn des Experiments Autonomie.
Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus geht davon aus, dass jedes System (Amöbe, Katze, Mensch) seine ihm eigene Welt konstruiert und gleichzeitig selbst hervorbringt. Die Welt ist ein Spiegelkabinett konstruierender Subjekte. Ein vielzitierter Satz des chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana steht für die grundlegende These der Konstruktivisten: „Wir erzeugen buchstäblich die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben.“ Lebende Systeme stellen ihre Bestandteile selbst her (sie sind autopoietisch), und sie sind autonom, weil sie ihre Regelung selbst regeln. Die Konstruktivisten lenken den Akzent auf Eigentätigkeit statt auf Außensteuerung und bloßes Reagieren. Konstruktivistisches Denken geht davon aus, dass unsere komplexen modernen Gesellschaften nicht in erster Linie auf Kontrolle, zentrale Regelung und Hierarchie aufgebaut werden können, sondern auf Selbstorganisation, Eigenverantwortlichkeit und Kooperation. Das besondere Augenmerk der Konstruktivisten gilt so genannten autologischen Begriffen (d. h. Begriffen, die auf sich selbst anwendbar sind, wie Lernen, Bewusstsein und Organisation, Begriffen also, vor die man die Silbe „selbst-“ setzen kann). Die im Konstruktivismus vertretene Idee der Autopoiese wäre demnach eine gesteigerte Form der Autonomie (was wörtlich Selbst-Gesetz bedeutet), es wäre Selbstbestimmung pur: Erzeugung und Bestätigung der eigenen Identität durch die Bestimmung von innen her.
Selbstbestimmung meint weder die Bejahung gegebener gesellschaftlicher Zustände noch eine Programmatik der Negation bzw. Ablehnung à la Adorno, so auch nicht den Wandel von der Autonomie der Verweigerung zum großen Mitmachen. Sie meint ein „Ja zur Welt“. Und ein Ja auch, in ihr zu wirken. Das verändert die Konzeption einer Kunstform von Grund auf: ihr Verhältnis zur Technik, zu ihrer eigenen Geschichte, zur eigenen Konzeption und zum Diskurs der Vernunft im Allgemeinen. Ein „Ja zur Welt“ meint darüber hinaus den verbreiteten Wunsch, selbst über das eigene Leben bestimmen zu können. Wenn früher der Spaß da aufhörte, wo man Menschen Geld, Arbeit, Macht, Liebe, Sex, Gott usw. wegnehmen wollte, so wird heute, wie der Soziologe Ulrich Beck diagnostiziert, mehr und mehr die „Verheißung des eigenen Lebens“ genannt.
Das setzt ein Gestikulieren und Gratwandern entlang der Trennlinie zwischen Kunst und Leben voraus. Die Vernetzung (und nicht etwa Verschmelzung) von Kunst und Leben wie auch der Kunstwelten wird als Lebenskunstwerk (Lifescape) betrieben, das auf der Neugierde und auf einem akuten Bedürfnis fußt, dem autistischen Gefängnis begrenzter Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb spezifischer Gattungen zu entrinnen. Das Interesse wird geäußert, sich auf einer Spielwiese für Grenzüberschreitungen interdisziplinären, intersubjektiven, interkulturellen, interaktiven und multimedialen Charakters austoben zu können. Interesse meint hier mehr als nur Lust, Reiz oder Neigung zum Neuen, es will im wortwörtlichen Sinn (inter-esse) des Dazwischenseins verstanden werden. Interesse meint nicht bloß die Tendenz zur Befriedigung der eigenen Wünsche, sondern, im Gegenteil, ein Sich-Dazwischenstellen, das den Verzicht auf jegliches subjektive Verlangen zugleich mit der Bereitschaft zur Bewegung vom Gleichen zum Immergleichen impliziert.
Wenn das Kunstwerk mit dem wichtigen Begriff des Lebens erweitert wird, dann zeigt sich im Lebenskunstwerk, dass die Kunst nicht nur Leben darstellt, sondern dass sie selbst über ein Leben verfügt. Der Werdegang der Kunst durch die Jahrhunderte kann somit als ein aus eigener Schwäche oder Kraft erfolgtes Absterben oder Wiederaufleben – wie in der Renaissance – verstanden werden. In dieser Vorstellung von einem Leben der Kunst wird auch ihre Wirkung auf die Betrachter einbezogen als ein Miterleben. Lifescapes erfahren wir mit der ganzen lebendigen Haut. Wir können die Räume wie witternde Tiere riechen. Wir sind ja nicht nur Kopfmenschen, sondern besitzen fünf Sinne, stoßen mit Nase, Augen und Ohren, mit Hand, Mund und Fuß auf die Dinge der Welt. Diese Dinge erfahren wir gemeinsam. Wir bewegen uns in Stimmungen, die wir mit anderen teilen. Das Lebenskunstwerk erweist sich dabei als jener Kunstausdruck, in dem sich das Leben der Kunst am überzeugendsten verwirklicht.
Ich glaube nicht, dass die Bedeutung von Einzelwerken schwindet. Will ich mir die Kunst der Moderne vor Augen führen, so bieten sich gerade Einzelwerke hervorragend an, um künstlerische Entwicklungslinien zu beschreiben. Sandro Bocola spricht überzeugend von vier Grundhaltungen: der realistischen Haltung, der strukturellen Haltung, der romantischen Haltung, der symbolistischen Haltung. Was einsetzen wird, ist ein intensiver Diskurs über die Bedeutung von Kunst. Denn in den letzten Jahrzehnten ist es zunehmend schwieriger geworden, Kunst als solche und erst recht nach ihrer künstlerischen Bedeutung zu erkennen. Das macht viele ratlos. Kann es ein konsistentes, anhand von bestimmten Eigenschaften beschreibbares „Wesen“ der Kunst überhaupt geben?
Marcel Duchamps Ready-mades und Andy Warhols Brillo-Schachteln zeigen, dass es nicht so sehr auf die ästhetischen Qualitäten eines Kunstwerks ankommt (formale Stimmigkeit, handwerklich-technische Meisterschaft, ausgewogenes Verhältnis von Ordnung und Komplexität usw.). Kunst ist offensichtlich vielmehr eine reine Sache der Wahrnehmung und des Bewusstseins. Nicht eine geheimnisvolle Substanz im Kunstwerk, sondern das menschliche Bewusstsein schreibt der Kunst Bedeutung zu. Wenn aber nun die Bestimmung der Kunst allein in einer intellektuellen oder bloß ideologischen Aufrüstung besteht, dann stellt sich die Frage, ob Kunst selbst überhaupt eine Aussage macht. Wie muss man sich die geistige Aussage von Musik vorstellen? Vielleicht ist es daher besser von Bedeutung zu sprechen. Bedeutung aber nicht im Sinne von (mimetischer) Repräsentation, als bloße Identifizierung des Dargestellten, sondern im Sinne von Bedeutung oder Deutungsfähigkeit. Etwas, das deutungsfähig ist, hat eine Bedeutung, die sowohl über die physikalische Realität des Kunstprodukts wie auch über das Repräsentierte hinausweist.
Während etwa Pornografie keine über die Beschreibung des Repräsentierten hinausgehende Deutungsfähigkeit besitzt, besteht die Bedeutung von Kunstwerken gerade darin, dass sie über den repräsentierten Gegenstand hinausweisen, indem sie uns über ihre ästhetische Gestalt eine Vielfalt von Assoziationsfeldern, Bedeutungskomplexen und Vernetzungsmöglichkeiten anbieten. Gäbe es keine Bedeutung hinter dem sinnlichen Erleben eines Kunstprodukts, so wäre Interpretation unnötig und unmöglich, und es gäbe bloß Beschreibung des Präsentierten.
Arthur C. Dantos Kunsttheorie der „aboutness“ besagt, dass Kunstwerke sich von gewöhnlichen Dingen dadurch unterscheiden, dass sie immer über etwas sind. Und zwar in doppeltem Sinn, indem sie zugleich ihren Gegenstand und dessen Präsentationsform thematisieren, also über sich hinaus und zugleich auf sich selbst zurück verweisen. Eine einleuchtende Theorie, die für ein Bedeutungskonzept plädiert.
Du betreibst dein ästhetisches Dasein als Doppelrolle von Kunst und Philosophie. Wer deine Arbeiten und Schriften kennt, weiß, dass die Werke und Texte von deiner Person nicht zu trennen sind, dass Haltung und Stil in eins zu setzen sind. Das ist auch ihre Qualität.
Vom Berner Kulturphilosophen Gerhard Johann Lischka ist der treffende Satz überliefert: „Jede/r ist ein Mediator.“ Damit meint er auch, dass jeder durch seine Erscheinung ein Performer und jede durch ihre Erscheinung eine Performerin ist. Er spricht davon, dass Künstler in Selbstdarstellungen sowohl ihr ausgeprägtes Selbst-Verständnis als auch ihr Welt-Verständnis sichtbar machen oder sich in Rollenspielen inszenieren können. Selbstdarsteller, ganz allgemein, kennen kein Ideal. Sie können mager oder fett, schön oder hässlich, von gebückter Haltung oder aufrechter Gestalt sein. Wen kümmert’s? Wichtig ist, dass sie ihr Selfstyling beherrschen, wie Lischka festhält. Damit meint er nicht Stil als Design-Konformität, sondern Stil als Summe aller Dinge, die eine Person ausmachen. Stil ist somit auch Ausdrucksspur individueller Einzigartigkeit. Stil ist der unbeirrbare Wille, die Dinge so und nicht anders zu sehen. Zu einem ästhetischen Dasein gehört die Fähigkeit, diesen Willen gestaltend umzusetzen. Wo kein Selfstyle, entsteht auch keine neue Welt, kein neues Selbst, keine neue künstlerische Haltung.
Lifescapes entstehen aus einer Mischung von Architektur, Design und Skulptur, aus dem Übergang von Ausstellung und Atelier, aus der Verbindung von künstlerischem Raum und Lebensraum. Was in Lifescapes passiert, kann kaum „Kunstwerk“ oder „Ausstellung“ genannt werden – zusehends fragwürdige Bezeichnungen –, sondern ist vielleicht nichts anderes als eine Konfiguration von Zeichen und ein Ensemble von Techniken, also nicht ein Bild der Welt, sondern selbst eine Welt.
Der Unterschied zwischen „Lifescapes“ und „individuellen Mythologien“ ist in etwa der gleiche wie derjenigen zwischen Venedig und Florenz in der Renaissance. Während die Vertreter der Malerei in Florenz die Erzählung hervorheben, was der individuellen Mythologie nahe kommt, beziehen sich die Venezianischen Maler vor allem auf die Existenz, auf das Dasein des Menschen, was der Lifescape entspricht.
Individuelle Mythologien haben mit Nabelschau und Orientierung am Himmel zu tun. Es handelt sich dabei um eine modische Innerlichkeit als Selbstbezogenheit, Egoismus oder Narzissmus. Eine falsche Intimität wird vorgegaukelt. Während individuelle Mythologien meistens auf Papier und Leinwand angewiesen bleiben, spielen sich Lebenskunstwerke als Public Art und in Lebensräumen ab. Lifescapes sind weniger als Ort des Privaten und Gegenpol zum Öffentlichen angelegt, sondern bilden sich in den Schnittstellen zwischen privatem und öffentlichem Leben. Hier gibt es nichts zu erfinden, aber vieles zu entdecken und zu suchen. In Lifescapes spiegelt sich eine Suche wider. Diese Suche nach einer kommunikativen Lebenskunst erweist sich als Abstieg zu den Ursprüngen, zum eigenen Anarchismus, zur Freiheit der Anarchie.
Der Besuch von Lifescapes entspricht einer Art des Eintauchens: Man fühlt sich umgeben vom Raum, in dem man sich befindet; man guckt an die Decke und auf den Boden und sieht, wie der Raum auf den eigenen Körper und auf die eigenen Bewegungen reagiert; man verwandelt sich in den Spieler, um ganz in sich und in das Spiel versunken zu sein, denn Spielen setzt die Schwerkraft der Zeit außer Funktion. Erst das Spiel macht das Leben zum Kunstwerk. Und: Lebenskunst besteht aus dem Zusammenspiel aller menschlichen Sinne.
In Lifescapes geht es um das Dasein von Dingen, Kunstwerken, Tieren, Pflanzen und Menschen als einer Einheit. Genau diese neue Grunderfahrung des Daseins kann die menschliche Existenz in ihrer Ganzheit verwandeln. Die Rede ist von einem Intensitätsmodell, das ästhetische Erfahrung einlagert in die Alltagserfahrung. Im Lifescape treten die drei Schichten Leben/Erleben, Kunst/Theorie, Werk/Arbeit miteinander in Kommunikation, werden durch Performativität aufeinander projiziert, so dass ein Lebenskunstwerk entsteht.
Die Utopie spielt darin eine eminent wichtige Rolle. Sie ist der Zentralbegriff, um das Leben, das Selbst und die Kultur zu verstehen. Ich hatte die Chance, mit dem Schweizer Philosophen Hans Saner 1998 ein langes Gespräch über die Utopie als Lebensform von Gemeinschaften zu führen, das für mich eine nachhaltige Wirkung hatte.3 Ich wollte von ihm u.a. wissen, ob es utopische Entwürfe gibt, die im Konzept die persönliche Freiheit und die Kreativität des Einzelnen als Widerstand gegen den Staat postulieren oder integrieren. Er erklärte mir: „Utopien im klassischen Sinn, seien es nun positive wie bei Thomas Morus, Thomas Campanella und Francis Bacon, oder negative wie bei Samjatin, Aldous Huxley oder George Orwell, sind immer von der Hypothese eines einheitlichen ‚Gemeinwesens’ ausgegangen, von einem Staat, der entweder total gesund oder total krank ist. In ihm mussten deshalb auch alle, zumindest klassenweise, ob nun im Guten oder Schlechten, gleich sein oder gleich gemacht werden. Der Gedanke der Differenz einer Gruppe, einer Minderheit, die gar nicht das Ganze verändern will, weil sie erkennt, dass dies ohne Gewalt unmöglich ist, war diesen Entwürfen meist fremd. Ein literarisches Gegenbeispiel wäre ‚Fahrenheit 451’ von Ray Bradbury. Fahrenheit 451 ist der Hitzegrad, bei dem Papier Feuer fängt und verbrennt. Der Roman schildert eine Gesellschaft, in der alle verdächtige Literatur – und alle große Literatur ist verdächtig – von Staates wegen vernichtet werden muss. Einige indes retten die großen Werke, indem sie sie heimlich und zurückgezogen auswendig lernen und an jüngere Dissidenten weitergeben. Hier haben Sie den Gedanken der Dissidenz, der in den klassischen Utopien fehlt, der aber in der Politik unseres Jahrhunderts eine so entscheidende Rolle gespielt hat, und zwar nicht bloß als Text, sondern vor allem als dissidente Praxis, als alternatives Leben. Dissidente Praxis hat es aber zu allen Zeiten gegeben. Unter ‚Utopie’ verstehe ich also nicht bloß eine literarische Gattung, sondern auch eine Art zu existieren.“
Lifescapes verkörpern aufs Vortrefflichste diese Idee einer Existenzialutopie. Es handelt sich um Lebensentwürfe, die nicht mehr Text sind, sondern die sich im Leben vollziehen. Lebenskunstwerke erheben keinen Anspruch auf Universalität, der messianische und missionarische Gestus fehlt, mehr noch, sie benötigen nicht einmal mehr den Text. Realisiert wird die Utopie als Freiraum für Experimente und Suchprozesse. Wenn keine Partitur mehr vorhanden ist, in der geschrieben steht, wie jemand zu leben hat, sondern neue Lebensformen versucht werden, lässt es sich zugleich von Experimentalutopien sprechen. Saner erklärt: „Experimentalutopien sind Lebensformen, die sich dem Prinzip von Versuch und Irrtum aussetzen und sich so falsifizieren lassen oder sich bewähren. Die Crux ist dann, dass man zugleich in zwei Kulturen steht: in einer Rahmenkultur aller und in einer Binnenkultur weniger. Was natürlich bedeutet, dass die Binnenkultur immer in einem fremden Rahmen sich einpassen muss. Man lebt dann im eigenen Land ungefähr so, wie Fremde bei uns leben: in der Gemeinschaft anders als in der Gesellschaft.“ Und weiter: „Der Sinn der Utopien als Texte war nie die Literatur als solche, sondern das utopische Leben, so wie der Sinn der Musik nie ihre Notation war, sondern das Machen und Hören von Musik. Das experimentelle Leben ist eine andere Art der Frage an das Leben und seinen Sinn als der Text. Im Lesen antwortet allein der Kopf. In der Experimentalutopie antwortet das Handeln. Das Handeln ist aber die Grundkategorie des politischen Lebens.“
Die Sehnsucht, im realen Leben ein ideales Leben zu verwirklichen, ist nicht totzukriegen. In der Philosophie wird das ideale Sein als Gegenstück zum realen Sein betrachtet. Dieses sei zeitlich, individuell, prozesshaft; das ideale Sein dagegen zeitlos, allgemein, unveränderlich. Hans Saner spricht zu Recht davon, dass menschliches Leben reales Dasein ist und dass Texte ein ideales Dasein haben.
Das 21. Jahrhundert beginnt apokalyptisch. Es herrscht Krieg, Zerstörung und Terror. Die Unternehmen und Aktionäre maximieren die Gewinne, die Einkommen der Arbeiter fallen unters Existenzminimum, die kollektive Psyche leidet unter Depressionen, der Alltag ist härter geworden. Der hoffnungsvoll utopische Blick in die Zukunft lebt von einer paradoxen Überzeugung: Es ist wahrscheinlicher, dass das Unwahrscheinliche geschieht, als das Wahrscheinliche.
Der Begriff „konzeptuelle Narration“ gefällt mir sehr gut. Während sich die künstlerische Moderne – von der Abstraktion und dem Ready-made bis zur Minimal Art und Konzeptkunst – oft gegen Geschichtlichkeit, Figuration und Theatralik und damit gegen die narrative Verknüpfung einzelner Elemente zu Geschichten richtete, verstehst du es vortrefflich, mit dem Begriff der „konzeptuellen Narration“ die Frage nach dem erzählenden Selbst aufzuwerfen, ohne dass dieses privilegiert wird. Kunst und Philosophie lassen sich zwar auf einen Autor zurückführen, doch können Werke und Texte ihren Inhalt wechselnd aus der Perspektive verschiedener Erzählfiguren schildern, was einem polyphonen Erzählen gleichkommt. Die „konzeptuelle Narration“ basiert, wenn ich die Idee richtig interpretiere, nicht auf einem kanonischen Modell mit Anfang, Mitte und Schluss, sondern es erscheint vielmehr alles als eine Abfolge von Träumen und Texturen, von Schachteln in Schachteln. Das Ganze ist eine Geschichte aus lauter Geschichten. Der Begriff würde aufzeigen, dass selbst die angeblich erzählfreie künstlerische Moderne die Narration nie verlassen hat, sondern uns nur verzweigtere und komplexere Erzählungen beschert.
In Lifescapes wissen die Künstler, wie einst barocke Zeremonienmeister, das Publikum innerhalb ihrer gesamtkünstlerischen Inszenierungen geschickt zu dirigieren. Die Grenzen verschieben sich, wenn Geschichten inmitten von unspektakulären Lebenswelten erzählt werden. Den Betrachtern wird signalisiert, dass auch sie gemeint sein könnten. Mehr noch: Die innerlich distanzierte Bewusstseinshaltung der Betrachter löst sich auf, denn das Eintauchen in Lifescapes umhüllt mit Malerei, Plastik, Architektur, Klängen und Gerüchen die Sinne als Totalität.
*Auszüge aus einem Gespräch zwischen Thomas Feuerstein und Paolo Bianchi, das im August 2005 stattfand. Erstabdruck in: Klaus Thoman (Hg.), Thomas Feuerstein. Outcast of the Universe, Wien 2006, S. 227 - 240.