Thomas Feuerstein

Das Tonikum des Konsums
Über Trickster und Dämonen

Trickster

„Are you bored with your Business? Are you bored with your Dinner? Are you bored with your Wife?“ fragt die Werbung für einen frühen Energy-Drink. Tono-Bungay heißt das wundersame Getränk im gleichnamigen, 1909 erschienenen Roman von Herbert George Wells. Vom Apotheker Edward Ponderevo erfunden, erobert das billigste Gebräu in der teuersten Flasche mit Hilfe des talentierten Neffen George Schluck für Schluck die Welt.

Onkel Ponderevo träumt von einem Elixier, das wichtiger als Weizen oder Stahl die Menschen unbedingt benötigen und wofür sie bereit sind, jeden beliebigen Preis zu zahlen. Er strebt nach Marktkontrolle und sinniert über das Monopol medizinischer Substanzen, denn wenn er über „alles Chinin der Welt“ verfügte, würde wohl ein Millionär alles geben, um seine „verzärtelte Frau“ vor der Malaria zu retten. Wegen der unberechenbaren „Börsenmeteorologie“ scheint dies abwegig und so mischt er ein aromatisches, leicht süchtig machendes Placebo, um einen Toast auf Konsum, Kapitalismus und freien Markt auszubringen. Tono-Bungay verspricht viel, von Verjüngung und Lebensverlängerung über nervliche Stärkung und Leistungsförderung bis zur Heilung physischer Leiden. Hergestellt aus wirkungslosen Ingredienzien, ist es aber nur „Christian Science“, ein Schwindel, der „gefärbtes Wasser“ anstatt in Wein in ein Tonikum verwandelt. Tono-Bungay ist ein Derivat des Unnützen, die Täuschung eines Tricksters jenseits des ökonomischen Tauschs, ein finanztechnisches Mobile des wuchernden, sich selbstverwertenden Kapitals ohne volkswirtschaftlichen Mehrwert. Den fehlenden Gebrauchswert kompensieren Marketing und Labeling, die zum kaufmännischen Midaseffekt werden, der wertlose Ausgangssubstanzen zu viel versprechenden Konsumwerten vergoldet.

Als Georges Jugendfreund Ewart, ein Künstler und Alkoholiker, in der Fabrik auftaucht, erkennt dieser sarkastisch, dass das Unternehmen ohne Sinn läuft. Doch genau in dieser Sinnlosigkeit steckt für ihn die Poesie, die den geschundenen Seelen, kleinen Angestellten und erschöpften Arbeitern den Traum verkauft, aus sich heraustreten und den Durst nach Leben stillen zu können: „Dafür brauchen wir - in einem höheren Sinn - diesen Dreck!“1 Die Poesie der Produktion liegt in der phantasmagorischen Erfindung von Werten und in der magischen Aufwertung des Wertlosen. Die Waren verleugnen die Prosa der Wirklichkeit und werden, wie Ewart ausführt, zur lyrischen Dichtung, zur Fiktion und zum Paradiesversprechen. Darin offenbart sich die moderne Eschatologie des Konsums als kapitaler Abfall. Wie der Künstler wertloses Material veredelt und symbolisch verzaubert, kreiert die moderne Wirtschaft aus wertlosem Unrat Kapital. Ästhetik und Ökonomie gehören untrennbar zusammen und das interesselose Wohlgefallen verlagert sich von der Kunst in die Wirtschaft. Die Ware ist vom Zwang, nützlich zu sein, erlöst, was die Voraussetzung für den inflationären Verbrauch bildet, bei dem Produktion nicht Wohlstand zur Verbesserung von Lebensbedingungen generiert, sondern ohne Sinn und Wert gesellschaftliche Energien verpufft. Handelte der alte Kaufmann mit Gebrauchswerten, erfindet der neue Unternehmer Scheinwerte und leere Versprechen und begründet den modernen Warenfetischismus als Zauber der Ökonomie.

Der wirtschaftliche Alchemismus basiert auf dem Wandel von der Ware-Geld-Ware-Zirkulation zur Abfall-Geld-Transformation und charakterisiert nach Wells, der mit dem Gedanken spielte, den Roman mit „Waste“ zu betiteln, das tumorhafte Wachstum von Konzernen, Kapital und Konsum. Vor dem Hintergrund der für Wells' Zeit einflussreichsten Ökonomen, Karl Marx und Alfred Marshall, spiegelt der Roman die Entfesselung des Kapitals im Kontext von Kommunismus und Laissez-faire. Wirtschaften basiert im neuen Kapitalismus auf der künstlichen Herstellung von Bedürfnissen, deren Befriedigung niemand bedarf, und erzeugt eine asymmetrische Abhängigkeit in Form eines neuen Kolonialismus. Nicht zufällig nimmt Wells Anleihen bei Joseph Conrads Herz der Finsternis, mit dem Unterschied, dass die Kolonie anstatt in Afrika im globalen Markt liegt. Der Konsument wird erstmals mit ausgebeuteten Ureinwohnern britischer Kolonien verglichen und in die Tradition des Sklaven, Knechts und Arbeiters gestellt. Tono-Bungay fungiert innerhalb der ungleichen Ökonomie als „Glasperle“ und als Fetisch, womit das Tonikum zwei gegensätzliche Momente der Moderne in einer Flasche vereint. Während die Glasperle für die Rationalität des Handelns steht, verkörpert der archaische Fetisch das Irrationale und das Anti-Moderne. Dass europäischer Betrug und Animismus sich nicht ausschließen, sondern integraler Bestandteil moderner Ökonomie sind, wusste bereits Marx. Als Leser von Charles de Brosses Werk über Fetischgötter2 sind für Marx die Europäer die eigentlichen Fetischisten, die das von ihnen selbst Hervorgebrachte in Gestalt des ihnen Äußerlichen verehren. Die Ware stiftet über die Identität der Marke das Vertraute und die Redundanz des Alltags, beinhaltet aber auch Phänomene der Entfremdung und des Verdrängten.

Im Fetischismus dienen Waren der Inkarnation abwesender Kräfte, die die Ordnung und Machtverhältnisse der Dinge beschwören. In ihnen wohnen die Dämonen, die wie im afrikanischen Fetischglauben die weltliche Ordnung in Form einer transzendentalen Macht konstruieren und stabilisieren. Marx entwickelt sein Fetischismuskonzept im Rahmen der Warenanalyse, bei der das Ding - wie später das libidinöse Objekt bei Freud - als pervertiert gezeigt wird. Das Perverse resultiert aus dem Inversen und leitet sich aus der Doppelstruktur des Fetischs ab, der gleichzeitig materielles Ding und imaginäres Idol ist. Die transzendental-ökonomische Beziehung beruht auf „Transsubstantiation“ und „Verwechslung“, aufgrund der Waren quid pro quo in Geld, in andere Waren, in Dienstleistungen, in soziales Prestige und sozialen Neid oder in entropischen Abfall getauscht werden können. Die Macht des Fetischismus steigert sich in der Oszillation der Tauschmöglichkeiten, weshalb Marx das Geld zum höchsten Fetisch stilisiert. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten heißt es entsprechend: „So groß die Kraft des Geldes, so groß ist meine Kraft.“3 Die Magie des Geldes entsteht nicht nur aus seiner Verzinsung, die es in die Nähe eines lebendigen, sich selbst reproduzierenden Organismus rückt, sondern aus einem universellen Animismus, bei der das Geld zum Blut wird, das Kräfte verleiht und tote Dinge belebt. In diesem Sinne wirkt Tono-Bungay als blutiger Fetisch, dessen Inhalt wie ein Geist aus der Flasche die zombihaften Körper der Konsumenten animiert oder, wie Onkel Ponderevo beteuert, den Menschen Selbstwertgefühl und Glauben schenkt. Animieren heißt hier vor allem steuern und kontrollieren, denn aufgrund der fehlenden Wirkung wird niemand erweckt oder geheilt, sondern lediglich als vampirhafter Untoter zum Anhängsel der kapitalistischen Maschine degradiert. Im Unterschied zum Arbeiter, der seine Entfremdung in täglicher Mühsal erleidet, ist der Konsument ein Sklave, der in der Illusion der Freiheit lebt. Der Konsument wird vom Kaufrausch befallen, wie der Körper von einem Parasiten oder Virus besiedelt wird.4

Der Gedanke, dass Konsumenten wie indigene Völker erobert werden „wollen“, war Marx jedoch fremd. Im 19. Jahrhundert herrschte Mangel und nicht Überproduktion, weswegen die Ausbeutung des Arbeiters und nicht die konsumistische „Besessenheit“ im Zentrum der Kritik stand. Erst Ende des 19. Jahrhunderts erleben Waren aller Art eine rasante Vermehrung. In Serien und unzähligen Varianten hergestellt, multiplizieren und diversifizieren sich die Dinge in zuvor unbekannter Weise. Der Markt wird zum Biotop für konkurrenzierende Produkte, die in den Schaufenstern der neu entstandenen Arkaden und Warenhäuser um die Gunst der Käufer buhlen. War wenige Jahrzehnte zuvor die Überflussgesellschaft bourgeoiser Hohn, beschreibt 1899 Thorstein Veblen in The Theory of the Leisure Class den neuen Status der Warenwelt und seine soziale Funktion der Differenzbildung. Die Vermehrung der Produkte zielt auf eine rituelle Vergeudung: nur Verschwendung bringt Prestige. Der Warenkonsum dient der Selbstdarstellung der „feinen Leute“ und führt zum Wettrüsten im sozialen Repräsentationskrieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfasst das Dispositiv des konsumistischen Wettstreits alle Schichten und expandiert nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zur globalen Ordnung.

Das Prinzip der konsumistischen Verausgabung erinnert an den Potlatsch, den Marcel Mauss als „System der totalen Leistung“ beschreibt.5 Vergleichbar der Geschenksökonomie bedingt der Konsum eine Überforderung, indem mit jedem Kaufakt eine Befriedigung durch soziale Differenz bezweckt wird, die sich nivelliert, sobald alle anderen ebenfalls dieses Produkt besitzen. Daraus folgt wie bei der Gabe, die Mauss mit dem Kredit in Beziehung setzt, ein System der endlosen Zirkulation. Der Konsument ist wie der Beschenkte verpflichtet, das Geschenk beziehungsweise die zur Schau gestellte Ware des Anderen zu überbieten. Man schenkt, um den Anderen zu einem noch größeren Geschenk zu veranlassen; man kauft, um den Anderen zu einem prestigeträchtigeren Produkt zu nötigen. Die Moral des Schenkens und des Konsums liegt im agonistischen Verbrauch, der mit Joseph Schumpeter als „kreative Zerstörung“ bezeichnet werden kann. Aus diesem ruinösen Ritual des Schenkens beziehungsweise des entropischen Konsums, das die beteiligten Gesellschaften ans Limit ihrer Ressourcen bringt, erwächst die soziale Ordnung. Die Strukturähnlichkeit von Potlatsch und Konsum zeigt sich im Paradox des Teilens, das gleichermaßen verbindet und trennt und somit auf zwei widersprüchlichen Ebenen funktioniert: Man teilt „solidarisch“ eine Sache, macht den Anderen zum Teilhaber an einem Gesellschaftskontrakt und umgekehrt konstruiert das Teilen eine Unterscheidung, die dem Zweck der sozialen Hierarchisierung dient. Im Konsum steckt sowohl die Logik von Liberalismus als auch Kommunitarismus. Während der liberale Kapitalismus auf sozialen Neid und Klasse aufbaut, erzeugt der „Kommunismus der Marken“ Kompatibilität über gemeinsam genutzte Produkte. Im Konsumismus lebt das Gemeinsame und das Trennende, die wie in einer fragilen Ehe auf kleinste Verschiebungen mit sozialen Unruhen reagieren. Die Ware selbst ist dabei nicht nur passives Medium, das die Zirkulation am Laufen hält, sie ist - wie in jedem Fetischismus - auch Aktant, der aktiv am Prozess teilnimmt und in die Rolle des Subjekts schlüpft.

Dämonen

Im marxschen Warenfetischismus entwickeln die Produkte unter den Bedingungen kapitalistischer Produktionsweisen ein Eigenleben und eine Zauberkraft, die ansonsten nur archaischen Fetischskulpturen zugesprochen werden. Die Menschen werden von den Dingen beherrscht oder wie Marx schreibt: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, anstatt sie zu kontrollieren.“6 War bei Marx der Arbeiter das Objekt und die Ware das Subjekt und ging daraus die perverse „Verwechslung“ hervor, die die Entfremdung auslöst, entspricht das Wesen des Konsumismus einem Dämon, der im Konsumenten wohnt. Die Ware entfremdet den Konsumenten nicht wie einst den Arbeiter, sondern ist im Gegenteil sein Antrieb und Identitätsversprechen. Sie verleiht der Ökonomie Energie und motiviert immer mehr Menschen, sich zu optimieren und in den Arbeitsprozess zu integrieren. Im Konsumismus wird die Ware zum Daimonion des Konsumenten und erinnert an den Dämon des Sokrates, der sich als innere Stimme unaufgefordert meldet und weit über der Vernunft rangiert. Die Parallele zu Marx liegt im Umstand, dass die Handlungen als innewohnende Notwendigkeiten erscheinen und sich die Verhältnisse als von Menschen gemachte invisibilisieren. Gegenwärtig wird dies als Umstieg von menschlichen auf systemische Prozesse erfahren und ähnlich missbraucht wie in Frühzeiten des Kapitalismus.

Wenn Menschen ihre Arbeit verlieren und sich die Klassen des Prekariats und der so genannten Entbehrlichen herausbilden, ist das ein Indiz, dass der neue Fetisch „System“ heißt. Das System zieht scheinbar die Fäden hinter den Rücken der Menschen und entkoppelt sich von ihren Bedürfnissen. Im System lebt ein in der Moderne verdrängter Animismus und wird zum Garanten für die Steuerung komplexer, die menschliche Vernunft übersteigender Zusammenhänge. Der systemische Fetischismus ermöglicht wie im magischen Weltbild eine Delegation von Verantwortung sowie Einsicht in gesellschaftliche Verhältnisse an eine höhere Macht. Das System wird schicksalhaft und göttlich, denn das soziale Übel hat weder ein Gesicht noch eine Adresse. In dieser vertrackten mythischen Situation des Konsumismus können sich nur schwer kritische oder klassenkämpferische Fronten bilden, denn die Grenze des Systems läuft quer durch das eigene Selbst. Die soziale Klasse, der schlechte Job, die dürftige Ernährung, die mangelhafte Bildung, die verschmutzte Umwelt, all das ist Schicksal, für das man selbst verantwortlich ist. Die Botschaft lautet: Wir können gegen nichts aufbegehren, nur gegen unser eigenes Unvermögen.

Genau aus dieser Agonie und Ohnmacht entspringt gleichzeitig das letzte Heilsversprechen und die einzige Möglichkeit des Genießens. Der aufgeklärte Konsument weiß von den Risiken, der zerstörenden Umweltverschmutzung und den Produktionsbedingungen der Sweatshops, und genießt dennoch. Der egoistische Konsument muss seinen Reichtum nicht rechtfertigen, sondern trägt ihn als Tugend zur Schau. Weil Konsum schicksalhaft ist, nähert er sich dem Fatum und Pathos der Religion an. Insofern hat Norbert Bolz in seinem Konsumistischen Manifest Recht, dass der Konsum dem Fundamentalismus gegenübersteht und sich die einzige Möglichkeit des Weltfriedens im Marktfrieden offenbart. Aber dieser Friede erinnert an die Eschatologie des American Way of Life eines Alexandre Kojève, der bereits in den 1940er-Jahren - wie später Fukuyama - das Ende der Geschichte prognostizierte.7 In der kapitalistischen Endzeit des globalen Konsumismus triumphiert nicht die Humanität, sondern der Mensch kehrt zur Animalität zurück. Er sitzt selbstvergessen am eschatologischen Bankett, an dem es der religiösen Vorstellung nach keine Sprache, keine Geschichte und keinen Fortschritt gibt. Der Konsum befreit von der Last der Individualität und stiftet verbrüdernde Zuschreibungskonzepte kollektiver Rituale, indem sich das Individuelle als Ware verdinglicht. In beiden Fällen, im Konsumismus und Fundamentalismus wird ein Tonikum als paradiesisches Schlafmittel - Tono-Bungay als Lethe-Saft - gereicht, das die rauschhafte Betäubung durch die Religion des Konsums und durch den Konsum von Religion bewirkt und die erinnerungslose Auflösung des Selbst vollzieht. Aus dieser Perspektive erscheint die konsumistische Position von Bolz ebenso fundamentalistisch wie jene, gegen die sie ankämpft. Fundamentalismus und Konsumismus stehen sich wie zwei konkurrenzierende Krankheiten gegenüber, die den Volkskörper dämonisch parasitieren. Während auf der einen Seite der Konsumismus „das Immunsystem der Weltgesellschaft gegen den Virus der fanatischen Religionen“ darstellt, soll sich andererseits die Hoffnung auf Marktfrieden erfüllen, indem sich „der Virus (…) des kapitalistischen Wirtschaftens auch in den heute noch vom antiamerikanischen Ressentiment besetzten Seelen reproduziert“.8 Was hier ausgeblendet wird, sind die enttäuschten Hoffnungen so genannter Fundamentalisten, die von der Wirtschaft exkludiert sind und nach alternativen Lebens- und Gemeinschaftsformen suchen. Die Befriedung des Terrors durch Konsum kann auf Dauer nur neuen Terror fundamentalistischer Klassenkämpfe, ausgelöst durch „Entbehrliche“, Globalisierungsverlierer und Naturschützer hervorbringen. Doch dieser Terror wird unvorstellbar grausamer sein, da er die Dinge, die Naturgewalten, den Überschuss an Mangel und die Unbestimmtheit der Komplexitäten auf seiner Seite hat.

Obgleich genügend Friedensmunition für das Vergessen im Umlauf ist, stellt sich die Frage, wann Konsumenten - wie einst der Arbeiter die Entfremdung - die Besessenheit wahrnehmen und begreifen, dass die konsumistisch verordneten Werte nicht die ihren sind. Die marxistische Revolution wollte den Fetischismus entlarven und zerschlagen, doch das Gegenteil war der Fall, er wurde zum kollektiven Begehren. Die Kritik des Massenbetrugs, die Analyse der Spektakelkultur, die Beteuerungen der Frankfurter Schule gehen wie jede sporadisch aufflackernde Konsumkritik mit der Verbesserung der Täuschungstechniken und der Optimierung der Gebrauchswert-Versprechen einher, die wiederum das Individuelle zu Gunsten asymmetrischer Kapitalakkumulationen löschen.

In Wells' Roman spürt George die Abgehobenheit und Aufgeblasenheit seiner Existenz und versucht der sozialen Schwerelosigkeit zu entfliehen. Mit Melancholie nimmt er die Revolutionen der Konsumkultur, die eifrige Betriebsamkeit, das Verlangen nach Besitz und all die nebensächlichen Zerstreuungen wahr, die in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses gerückt sind. Die gesamte Aufmerksamkeit gilt dem Glamour, noblen Autos, Sport, den feinen Hotels, teuren Bildern, selbst „ihre Literatur, ihre Presse dreht sich nur darum“: „Dafür wurden Armeen gedrillt, dafür wurde Recht gesprochen, wurden Gefängnisse gefüllt, dafür plagten sich Millionen und gingen elend zugrunde, damit der eine und der andere von uns nie fertiggestellte Paläste bauen, (…) in Automobilen durch die Welt brausen, Flugapparate erfinden, Golf und ein Dutzend anderer verrückter Ballspiele betreiben, sich auf geschwätzigen Partys drängen, wetten und aus unserem Leben ein einziges ungeheures, bedrückendes Schauspiel törichter Verschwendung machen konnte!“9 

George konstatiert eine Hypertrophie des Kapitals und vergleicht die Farbigkeit und Fülle der Konsumwelt mit dem Laub im Oktober, das beim ersten Frost fällt. Die entfesselte Ökonomie präsentiert sich als ein freies Spiel von Kräften, bei dem die verbrauchten Energien nicht ersetzt werden. Die Konsumgesellschaft befindet sich im Prozess der Auflösung und treibt dem Verfall zu. Das kennzeichnet die „Epoche der Sinnlosigkeit“ und erinnert an Schopenhauers aphoristische Rede vom Leben als Schimmelüberzug des Planeten. Die Weltsicht der modernen Pessimisten erfährt ihre Konkretisierung als Umstellung von Ontologie auf Ökonomie, bei der der Konsum zur Maschine der Verwesung, zum Kadaverisierer der Werte und zum Beschleuniger der Entropie wird.10 Die moderne Ökonomie ist für George ein erkenntnisloser Dämon, der wie die betriebsame „Ponderevität“ seines Onkels nur Unordnung und Seinsverschleiß hervorbringt: „Er erschuf nichts, erfand nichts, rationalisierte nichts“, er fabulierte nur eine wahnwitzige Dichtung, geschrieben in wertlosen Waren und falschen Zahlen der Buchführung. Was Onkel Ponderevo mit seinem Firmenimperium schuf, war eine Konfabulation, eine Religion des Kapitalismus, deren wichtigstes Produkt der Glaube war.

Am Ende der Geschichte versucht George die „Beine auf den Boden“ zu bekommen, indem er Fluggeräte und navigierbare Ballone konstruiert, die allesamt abstürzen. Er findet sein Heil in der Wissenschaft, die die einzige Wirklichkeit darstellt und deren Ergebnisse im Gegensatz zum geschäftlichen Treiben von dauerhaftem Gewinn sind. Im Schatten der glamourösen Welt arbeiten „tausend verschiedene Gestalten“ unter „Hunderten von Namen“ in der Wissenschaft, Kunst, Literatur und anderen Gesellschaftsbereichen, um das Bleibende und Schöne zu entdecken. Letzten Endes baut George einen Zerstörer, der ihm zum Symbol wissenschaftlicher Realität und Wahrheit wird. Er fährt über die Themse auf das Meer hinaus, wo in ihm das Gefühl einer szientistischen Erhabenheit aufsteigt. Wie sein Onkel davon träumte, das ganze Land in ein wirtschaftlich organisiertes Unternehmen zu verwandeln, sinniert George über ein zukünftiges System der Wissenschaft. Thomas Richards interpretiert diese Vorstellung in Ausblick auf die zeitlich nicht ferne Entstehung der Kybernetik als einen universellen „governor“ beziehungsweise Regler, der die Geschicke der Welt steuert.11 Ein derartiger Kontrollmechanismus könnte die in Unordnung geratene Ordnung wieder herstellen, und in Anlehnung an Clerk Maxwells Gedankenexperiment wäre der „governor“ der Politik ein Dämon, der gegen die Entropie in Staat und Wirtschaft ankämpft. Maxwells Dämon, der die kybernetische Regelungs- und Automatisationstechnik antizipiert, wird zum Modell eines wissenschaftlichen Staats- und Wirtschaftsapparates, das die „invisible hand“ eines Adam Smith zum Acheiropoíeton moderner Informationsverarbeitung mutieren lässt. Der Daemonicus oeconomicus wird zur Konstante der „sozialen Physik“, die nicht nur in Zeiten viktorianischer Thermodynamik die Faszination und Paranoia der totalen Informationskontrolle des British Empire bestimmte, sondern bis heute als Suche nach effizienten Steuerungspolitiken nachwirkt. Der Markt als Panoptikum der Produzenten, Waren und Konsumenten bildet das Szenario eines benthamschen Panopticons kybernetischer Überwachung und Kontrolle von Konsumgesellschaft. Für den Nutzer von Kommunikations- und Massenmedien, den Verbraucher von Konsum- und Massenartikeln hat diese Zukunft längst begonnen.


1 H. G. Wells, Tono-Bungay, München 1996, S. 207.
2 Charles de Brosse, Ueber den Dienst der Fetischgötter oder Vergleichung der alten Religion Egyptens mit der heutigen Religion Nigritens, Berlin 1785.
3 Karl Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1972, S. 564.
4 John de Graaf, David Wann und Thomas Naylor sprechen in ihrem Buch Affluenza. The All-Consuming Epidemic (2001) von der „Zeitkrankheit Konsum.“ Das Kunstwort „Affluenza“ verbindet „Influenza" mit „Affluence" (Wohlstand, Reichtum, Überfluss).
5 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. Main 1990, S. 22.
6 Karl Marx, Das Kapital, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1972, S. 89.
7 Vgl. Alexandre Kojève, Hegel, Frankfurt a. Main 1975.
8 Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, München 2002, S. 16.
9 H. G. Wells, Tono-Bungay, München 1996, S 464.
10 Um Kapital zu beschaffen, soll George von einer Afrika vorgelagerten Insel radioaktives Material besorgen. Doch alles, was mit der Substanz in Berührung kommt, zerfällt. Das Schiff wird leck und sinkt. Radioaktivität wird für George zur Metapher für den Konsum der Dinge: „Meiner Ansicht nach ist Radioaktivität eine Krankheit der Materie. Ja noch mehr, es ist eine ansteckende Krankheit. Sie breitet sich aus. Man bringe die davon befallenen Atome in die Nähe anderer, und beide verlieren augenblicklich ihren stabilen Zustand. Das entspricht in der Materie in etwa dem Verfall unserer alten Kultur ...“ Ebenda, S. 440.
11 Vgl. Thomas Richards, The Imperial Archive. Knowledge and the Fantasy of Empire, London 1993, S. 74 ff.

Erstabdruck in: Gerald Nestler (Hg.), Yx. fluid taxonomies – enlitened elevation – voided dimensions – human derivatives – vibrations in hyperreal econociety, Wien 2007, S. 81 - 86.

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