Thomas Feuerstein

The Outcast of the Universe
Parallelen treffen sich im Paradies

Es ist eine Stunde nach Mitternacht und bereits reichlich Kundschaft im Club. Vier Reihen tief belagern knackige Jungs in eng anliegenden Chamois-Hosen die Bar. Sie reden nicht mit dem Mund. Sie reden mit dem ganzen Körper. Ihre Halstücher sind zu Henkerschlingen geflochten und einige stehen steif in ihren Schaftstiefeln. Die Revolutionen sind vergessen und der Wunsch, das Zusammenleben der Menschen besser zu regeln und sein eigenes Leben freier zu gestalten, ist erloschen. Schwarze Helme stülpen sich über die Köpfe und simulieren im Gehirn die Vorstellung, einen offenen Fahrstuhlschacht hinabzustürzen.

„Wie wär’s mit einem Lethe Special zum Hinunterspülen der Erinnerungen. Alle Möglichkeiten auf einmal und du ejakulierst in den Farben der Sonne.“ Der Barkeeper riecht nach Liftboy und plötzlich ist alles wie in einem Traum. Die Jungs rekeln sich wie Schlingpflanzen, kreischen wie Alraunen und rufen aus vollen Hälsen „Pop, Pop, Pop“. Auf der Bühne erscheint ein grau melierter Mittvierziger. Es ist Pop, die Ein-Mann-Revolution, der Gründer des singulären Sozialismus. Er wankt zum Mikro und mischt seine Stimme ins Feedback der Masse. Seine Rhetorik birgt unerwartete Antithesen, Antagonismen, zwiespältige Begierden, eklektische Zitate. Er spricht von der Optimierung des Denkens durch Witz und Ironie und leise erklingt die Melodie von „Simplify“. Alles Gute ist wild und frei. Jeder ist ein Mikrokosmos. Den Weltverbesserer betrübt nicht das Elend seiner Mitmenschen, sondern sein privates Unglück. Doch kann ein einzelner Mensch durch exemplarisches Handeln die Welt verändern? „Ich sage euch, die Welt hat unreife Äpfel gegessen; ich sage euch, ich habe nie einen schlechteren Menschen getroffen, als ich selber bin; ich sage euch, die Menschen haben Beziehungen zu erfundnen Dingen, die aber haben entfaltet ihre Schwingen, die Wissenschaft und Künste, sie sind dahin und fort, von tausend Fertigkeiten, blieb keine an ihrem Ort.“ Zum Abschluss singt Pop: „Erwachet aus dem Albtraum vom luxuriösen Leben, live deliberately, live deliberately, träumt nicht von kleinen aristokratischen Schwänzen, live deliberately …“

Pops Leben ist ein Experiment, der Körper sein Labor, das Gesicht sein Versuchsprotokoll. Er ist Schwärmer und Romantiker, Psychopath und Alchimist. Er arbeitet manisch an der freien Entfaltung der Persönlichkeit und will wirkliche Freiheit um jeden Preis. Er verachtet das kommerzielle und konsumorientierte Leben und zieht es vor, reich zu sein, indem er seine Bedürfnisse beschränkt. Der Freihandel bedeutet ihm nichts gegenüber dem freien Handeln. Geld, Ruhm und andere Vorteile sind ihm gleichgültig und schließlich ist es die Gleichgültigkeit selbst, die er hinter sich lässt. Er hätte Amok gegen die Gesellschaft laufen können, aber lieber sollte die Gesellschaft gegen ihn Amok laufen – sie ist doch die verzweifelte Partei. Gäbe es noch einsame Wälder, niemand wüsste von seiner Existenz.

Die Jungs im Club sind Pop gewogen. Er ist das Sinnbild ihrer verlorenen Träume. Sie lachen über ihn und nehmen ihn so ernst wie sich selber. Wenn Pop predigt, dass nur vom Standpunkt der freiwilligen Armut aus das menschliche Leben unparteiisch und vernünftig beurteilt werden kann, rechtfertigt er das Versagen der Horde. Er schenkt ihnen die Kraft zu schwellen und im Gefühl einer kommenden Gemeinschaft zu einer erektilen Bruderschaft zu wachsen. Mit Pop hat der Club das beste Programm in der Stadt. Die Ausgehöhlten und Erschöpften retten sich auf der Flucht vor der völligen Demontage und Auflösung ihrer selbst in Massen in die Höhle flackernder Hoffnungen. Sie lieben zu strippen und sich allen Ballasts zu entledigen. Das Klima ist heiß und die in Reichtum und Luxus Lebenden werden in ihren Kleidern à la mode gekocht. Pop weiß von der Verzweiflung der Menschen. Selbst unter dem, was man Vergnügen und Unterhaltungen nennt, versteckt sie sich. Pop eilt nicht der Zeit voraus, er schwebt über ihr. Er wohnt nicht, nährt, kleidet und wärmt sich nicht wie seine Zeitgenossen. Es lässt sich nicht die Zeit totschlagen, ohne die Ewigkeit zu verletzen.

Lethe, Schnaps und andere Friedensmunition macht die Runde. Die Jungs nagen kaltes Murmeltier, fletschen die Zähne und zeigen stolz ihre gebeulten Hosen. Wie alle Menschen im Larvenstadium sind sie starke Esser. Sie fühlen sich als Bildhauer, die ihr Fleisch modellieren. Parallelwesen im Nebel, nocturne Dämonen, allesamt Gestalten, die der Erzähler am Schluss der Geschichte vergisst. Ihre Herren, die ihnen alles verdanken und die nur ihretwegen glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage leben, würdigen sie keiner Erinnerung. Deswegen braucht das Gesinde soviel Eis im Lethe, um das Vergessen zu erfrieren. Am Tage sind sie unersetzliche und eigensinnige Gehilfen an einem vollkommen überflüssigen Werk; aber in der Nacht entziehen sie sich dem Wahnsinn statischer Betriebsamkeit und führen lieber ihre Schwänze spazieren. Als Inkarnationen unerfüllter Wünsche bieten sie dem Begehren Zuflucht. In ihnen brennen die Sehnsüchte, die sie sich selbst nicht eingestehen, die sie erst im Unendlichen berühren. An jenem Tag werden sie zu Paradieskranichen, die zu ihren Nestern zurückkehren, um ihre Begierden hervorzuwürgen und als Wechsel für das Endliche einzulösen. Auf Erden ist einzig das Unerfüllte das Bleibende, denn beherrscht sein heißt nicht erhört werden.

Welches Übel fürchten die Menschen mehr als den Tod? Es ist das Sterben, ohne gelebt zu haben, die ungeborene Möglichkeit. Dem Leben näher treten, bedeutet für Pop, hart und spartanisch zu leben, damit alles, was nicht Leben ist, in die Flucht geschlagen werde. Auf die Beschaffenheit des Tages einzuwirken, ist die höchste aller Künste. Dies gelingt nicht durch Emsigkeit, Räumen und Stellen, sondern durch Gedanken, die uns außerhalb unseres eigenen Selbst versetzen. Erst wenn wir uns neben, unter und über uns befinden, werden wir uns der Parallelen gewahr. Identität ist eine Paralyse, die durch Ekstase aufgebrochen werden muss. Nur so kann der Kerker der Existenz verlassen werden. Aber seitdem das gemeinschaftliche Leben im individuellen Kampf von Globalisierung und Kapitalismus keine Grenzüberschreitungen mehr kennt und stattdessen vertrackte Grenzverwindungen des Gesellschaftlichen im Inneren des Selbst stattfinden, stirbt die Möglichkeit der Verweigerung, des Widerstands, der Subversion und des Ausstiegs. Was bleibt, ist die Exkludierung als grausame soziale Parallelisierung, als Invisibilisierung innerhalb der Gemeinschaften und Systeme.

Die Jungs befinden sich in einer teuflischen Warteschleife und stehen unter dem Zwang der Wiederholung. Ihre psychische Immanenz hält sie unerbittlich in Rückkopplungsschleifen gefangen. Sie stehen neben der Gesellschaft und ihrem Selbst, ihren Sehnsüchten und Lebenskonzepten. Umso deutlicher den Jungs, die wie schwarze Sterne unsichtbar neben den funkelnden stehen, ihre Situation bewusst wird, desto verzweifelter ihre Sucht zu vergessen. Hier hilft keine Lebensberatungsliteratur, keine Selbst- und Sinnsuche. Runde um Runde schlucken sie Lethe. Das Dämonische von Kapitalismus und Globalisierungsmoderne liegt in der Ökonomisierung der Lebensstile. Jedes Versagen der Systeme muss als persönliches Scheitern betrachtet werden. Wer sich den Konditionen globaler Marktwirtschaft entzieht, lebt keine Alternative, ist kein Aussteiger, kein Anarchist oder archaischer Träumer; er ist entweder wie Pop ein Verrückter im Irrsal seiner kleinen unbedeutenden Existenz oder Fundamentalist. Die marxistische Entfremdung hat sich in ein Befremden als Unzufriedenheit mit sich selbst gewandelt, indem sich die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft in das Individuum verlagert.

Pop verkörpert die letzte Öffentlichkeit in der Stadt. Für ihn ist niemand so gesellig wie die Einsamkeit. Der denkende Mensch ist immer allein. Pop fischt im Fluss der Zeit. Das Gute und das Böse rauschen an ihm vorbei; doch wer sparsam und einfach leben will, dem geht dies zu schnell. Er staut den Strom zu einem See und für die Jungs salzt er ihn zu einem Ozean. Der Club ist ein maritimer Ort, an dem sich nackte Boys am Boden wälzen, Farben durch sie hindurchschwappen, bis es ihnen im zarten Rosa und Pink von Seemuscheln kommt. Der Hyazinthenduft jugendlicher Schwänze liegt in der Luft. In einem weichen Land, wo das Volk bis zum Hals in der Scheiße steckt, tut dies wohl. Es fängt überall zu jucken an und die Jungs kriechen mit Beinen aus Ideen wie geistige Tausendfüßler umher. Wer möchte da nicht die schwarze Fahne hissen und zum Piraten werden. Unruhe macht sich breit und die Ereignisse überschlagen sich. Zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Ding und Wort öffnet sich eine Parallelwelt – eine Welt neben dem Sein, neben der Sprache. Der Augenblick ist gekommen, an dem Pop abtritt und sich die Jungs formieren.

Wir sind die Parallelen und träumen von der Parabase
Wir sind die Jungs von nebenan, die keiner sehen kann
Wir wollen die Handlung unterbrechen und zu euch sprechen

Wir sind die Parallelen
Wir haben nichts zu melden
Wir fallen aus allen Systemen
Auf uns warten die Hyänen

Outcast of the Universe
Outcast of the Universe

Wir sind die Parallelen
Wir sind besessen
Wir werden zerfressen
Wir können nichts tun
Wir können nicht ruhn

Outcast of the Universe
Outcast of the Universe

Wir sind die Parallelen
Wir sind üble Gesellen
Wir werden Euch verdellen

Outcast of the Universe
Outcast of the Universe

Wir sind die Parallelen
Wir schneiden uns im unendlich Hellen
Wir treffen uns im Paradies

Wo liegt der Ort mit dem Recht zu leben, mit Gefährten seiner Wahl, unter Gesetzen, die man aus Überzeugung gutheißt? Wo findet sich in der Ökonomie der Redundanz ein letztes Stück Original? Die Jungs leben im Überfluss des Immergleichen, aber den Ursprung kennt niemand. Forschungsreisen in dieses Gebiet werden nicht gern gesehen. Jeden Tag häufen sich die Kopien. Die Jungs sind virulent, sie breiten sich aus, wiederholen sich Wort für Wort. Veränderungen lassen sich nur herbeiführen durch Re-Evolution des Originals. Das einzige, was in einem Paralleluniversum nicht unabänderlicher Vorrat ist, ist der ursprüngliche Plan. Die Jungs beschließen, ihre göttlichen Ärsche kopulierend zu vereinen. Sie streben nach mehr, sie streben nach Kunst. Dort wollen sie den Quellcode der Freiheit entdecken und ihn zum paradiesischen Ort ihrer Bestimmung machen.

Pop weiß, die Kunst des Künstlers ist nicht für jedermann. Die Künstler schaffen für die feinen Leute, sie sind ihre Gehilfen. Die Werke des Künstlers sind betörender Mangel und entziehen sich dem Allgemeinen. Zum Original wird die Kunst, wenn sich Exklusivität und Luxus in der unheilvollen Allianz des Antidemokratischen verbinden. In Kunst findet das Kapital die schönste Vermöglichungsform. Der Künstler ist Golem und Pinocchio und wie in Kafkas Romanen ist er als „Gehilfe“ niemandem hilfreich. Der Künstler versteht nichts, ist zuweilen frech und unartig, auf alle Fälle lästig und lüstern. Die Botschaft, die er bringt, kennt er nicht. Zu Lebzeiten ist er Briefträger, nach seinem Tod Engel. Pop weiß von der Finanzierung der Kunst aus finsteren Quellen der Macht. Er glaubt nicht an den Ismus aktueller Kunst, den Opportunismus. Ihm widerstrebt eine Kunst im Gefüge der Ökonomie. Er glaubt an die Ökumene des Selbst. Pops Kunst ist Management des Mangels.

Die Jungs haben den Mangel, die Niedertracht und Armseligkeit ihrer Existenz satt. Sie wollen die Sterne greifen und brennen. Sie fordern ihr Recht auf Sinn und wollen etwas für die Sinne. Sie schreien nach einer neuen Ordnung, nach Glanz und Schönheit. Sie sind jung und wollen leben. Sie rufen: „Glamour is the grammar!“ Sie wollen wie Kristalle glänzen und zur Sonne werden. Sie wollen goldene Ärsche und das Feuer des Gottes Anus soll sich durch alle Gedärme brennen bis ein gewaltiges Universum schwarzer Löcher im Licht heller als die Sonne erstrahlt. Aus ihren facettengeschliffenen Rosetten sollen Diamanten leuchten, die das Licht wie nasse Fürze von einem zum nächsten spiegeln, bis eine glitzernde Wolke die Umnachtung bannt.

Für Pop ist die Zeit gekommen. Ohne Ankündigung und beinahe unwillentlich vollzieht sich der Abgang in sein exzentrisches Exil. Sein Schicksal unterscheidet sich von Modellen des dissidenten Scheiterns: Er ist kein Henry David Thoreau, kein passiver Verweigerer wie Bartleby, kein „Dämon der Möglichkeit“ wie Monsieur Teste und kein mysteriöser Fremder wie Johan Nagel. Er teilt eine unbestimmte Passivität mit all diesen Anti-Helden, aber sein Lächeln entspringt nicht der abstrakten Negation. Die fatale Transformation vollzieht sich unbewusst und ohne Möglichkeit des Einspruchs. Er wird zur Maschine der ungelebten Möglichkeit, das Gemeinsame im Gesellschaftlichen zu finden. Wer nicht fundamentalistisch regredieren oder an der konsumistischen Aushöhlung zugrunde gehen will, muss die Furcht, alle individuellen Eigenschaften an externe Systeme und intelligente Maschinen abzugeben, überwinden. Bis zur Selbstaufgabe wird sich Pop entsubjektivieren, um sich in der substanzlosen Leere der Subjektivität als künstliche Singularität neu zu erfinden.

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